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Bundespolizei in Bremen Warum im Entschärfungsdienst kein Platz für Helden ist

Wann immer es in Bremen Bombendrohungen gibt, schlägt die Stunde des Entschärfungsdienstes der Bundespolizei. Wer in dieser Gruppe arbeiten will, muss bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Eine gehört nicht dazu.
18.07.2022, 05:00 Uhr
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Warum im Entschärfungsdienst kein Platz für Helden ist
Von Ralf Michel

B o m b e n s c h u t z a n z u g – schon allein das Wort klingt nach Gefahr. Nach Nervenkitzel, Adrenalin und Action. Völlig falsch! Entschieden grätscht Andries Winter* dazwischen. „Das vergessen Sie gleich mal wieder“, sagt der Leiter des Entschärfungsdienstes der Bundespolizei in Bremen. „Bei uns geht es um das sachliche, technische Bearbeiten von Gefahrenlagen.“ Es gehe um Sachkunde und Professionalität, nicht um Pulverdampf und Action, stellt Winter klar.“ Helden gibt es hier nicht. Die müssen woanders spielen gehen.“ 

Ein grauer, wolkenverhangener Morgen auf dem Gelände des Bremer Flughafens. Am westlichen Zaun, weit weg von Start- und Landebahnen und der Abflughalle, findet die Übung statt – ein vermuteter Sprengstoffanschlag auf einen Politiker. Ein kleiner, blauer Erste-Hilfe-Kasten, in 80 Meter Entfernung am Straßenrand abgestellt, dient als verdächtiges Objekt. Zwei Einsatzfahrzeuge stehen bereit, beide ausgestattet mit dem notwendigen Rüstzeug des Entschärfungsdienstes. Fernlenk-, Schutz- und Aufklärungstechnik, ein Bombenschutzanzug, Beleuchtungsapparaturen, Greifer, Werkzeuge und mittendrin der „Fernlenkmanipulator“, ein Roboterfahrzeug, um „sprengstoffverdächtige Gegenstände aus sicherer Entfernung zu bekämpfen“. 

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Spezialkräfte der Bundespolizei

Der Entschärfungsdienst ist seit 2020 die sechste Dienststelle der Direktion 11 der Bundespolizei. In ihr wurden 2017 alle Spezialkräfte der Bundespolizei gebündelt, darunter auch die GSG 9. Die Entwicklung in Deutschland und Europa erforderte den verstärkten Schutz kritischer Infrastrukturen und zusätzliche Maßnahmen zur Gefahrenabwehr, erklärt Volker Stall, Pressesprecher des Entschärfungsdienstes. Auch und gerade wenn es um explosive Stoffe geht, oder genauer: um „unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen“ (USBV). Sitz des Entschärfungsdienstes ist Kassel, doch die Dienststelle ist dezentral aufgestellt. Deutschlandweit gibt es 15 Entschärfergruppen, eine davon in Bremen. 15 Mitarbeiter, die – eine absolute Besonderheit in Deutschland – aus Kräften der Bundes- und der Landespolizei bestehen. Nicht zu verwechseln mit dem Kampfmittelbeseitigungsdienst der Bremer Polizei. „Für alles, was im Boden liegt und nicht bewegt wurde, sind die Kampfmittelräumer zuständig. Für alles, was raus ist aus dem Boden und woran rumgebastelt wurde, wir.“

Einer der Entschärfer steigt in den Bombenschutzanzug. Hose und Schuhe überzustreifen, geht alleine, für den Rest braucht er Hilfe. Die Jacke, der Helm, der neben Kamera und Sprechanlage auch ein Belüftungssystem enthält, die breite Schutzkrause für den Kopf – zwischen 40 und 45 Kilo wiegt der Anzug. Eine schweißtreibende Angelegenheit. „Da läuft dir das Wasser so aus den Ärmeln raus.“ Wer damit länger unterwegs ist, sollte vorher viel trinken. Der Helm wird unter dem Kinn festgeschnallt. Einmal den Kopf drehen, bitte. „Passt!“ Am linken Arm wird das Bedienungspanel festgemacht. Damit können die Funktionen des Anzuges eingestellt werden. 

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Bombendrohung in der Waterfront

Das Einkaufszentrum Waterfront wurde vor Kurzem wegen einer Bombendrohung geräumt. Der Alarm ging zunächst bei der Landespolizei an. Die bewertete die Lage – „könnte ernst sein“ – und informierte die Bundespolizei. Letztlich wurde nichts gefunden. Wäre etwas Verdächtiges aufgetaucht, hätten die üblichen Mechanismen des Entschärferteams gegriffen. Grundidee ist es, Robotertechnik einzusetzen, um das Objekt aus sicherer Entfernung zu entschärfen, erklärt Andries Winter. Nächste Stufe ist der Einsatz des Bombenschutzanzuges, um an den mutmaßlichen Sprengsatz heranzugehen. Führt auch dies nicht zum Erfolg, bleibt als letzte Möglichkeit die „manuelle Neutralisation“ – der bewusste Verzicht auf Schutz, um handlungsfähiger zu sein und schneller agieren zu können. „Das wird aber nur gemacht, wenn es wirklich nicht anders geht. Etwa, wenn man nur so Menschenleben retten kann“, betont Winter. Solche Einsätze lägen im Promillebereich. „Das filmreife Hantieren an solchen Objekten ist die absolute Ausnahme.“

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Der Mann im Schutzanzug macht sich auf den Weg. Bewusste, konzentrierte Schritte, so wie es der schwere Anzug erlaubt. An dem verdächtigen Kasten angelangt, installiert er einen Röntgenstrahler, dann entfernt er sich rückwärts von dem Objekt. Zum Schutz vor der Strahlung, aber auch, um sich vor einer möglichen Explosion zu schützen. „Was immer wir an dem Objekt machen, kann einen Effekt haben.“ Als der Entschärfer weit genug entfernt ist, wird der Röntgenstrahler ausgelöst. Das Bild, das er liefert, taucht 80 Meter entfernt auf dem Monitor im Sprinter auf. Zu sehen ist ein Handy, verbunden über ein Kabel mit einer undefinierbaren Masse – vermutlich Sprengstoff. Die Arbeit des Mannes im Schutzanzug ist damit beendet. „Wir wissen jetzt, was drin ist – eine Sprengvorrichtung, wahrscheinlich mit Funkauslöser“, erklärt Andries Winter. „Es wäre fahrlässig, da jetzt noch dran zu gehen. Dafür haben wir die Technik.“ Gemeint ist der Fernlenkmanipulator. An dessen Greifarm wird ein Wassergewehr eingehängt. Bohrmaschine oder Flex wäre auch möglich gewesen, aber die mutmaßliche Sprengfalle soll mittels gezielten Schusses mit einer Spezialpatrone unschädlich gemacht werden.  

Zusammengemixte Sprengladungen

Einsätze wie an der Waterfront, bei denen ein kompletter Gebäudekomplex evakuiert werden muss, sorgen für Aufmerksamkeit. Kommen tatsächlich aber eher selten vor. Im Einsatz ist der Bremer Entschärfungsdienst trotzdem so gut wie jede Woche. Ein verdächtiges Paket bei der Post, ein herrenloser Koffer am Bahnhof. „Normale Wald- und Wieseneinsätze“, nennt das Winter.  „Wir hatten es aber auch schon mit Handgranaten und selbst gebastelten Rohrbomben zu tun. Oder mit einem Haus, das mit Weltkriegswaffen vollgestopft war.“ Ein weiteres gefährliches Beispiel aus der Praxis sind die sogenannten Geldautomatensprenger. Und es sei dabei ja nicht mit der Sprengung des Automaten getan, erläutert Volker Stall. „Irgendwo wird die Sprengladung ja zusammengemixt.“ Was auf direktem Wege zur nächsten Frage führt, wenn die Polizei einem dieser Täter auf die Spur kommt: „Hat der eventuell noch Reste der Sprengladung zu Hause?“ 

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Das Kettenfahrzeug rumpelt in Richtung blauem Kasten. Der Roboter ist mit einer Kamera ausgestattet und wird per Joystick aus dem Einsatzfahrzeug heraus gelenkt. Der Mann am Bedienerstand bugsiert den Roboter direkt vor das verdächtige Objekt, richtet dann sorgfältig das Gewehr aus. Ein Knopfdruck, und der Kasten wird mit einem lauten Knall vom hohen Druck der Wasserpatrone zerfetzt. Vorteil dieser Methode – statt Metallsplitter der Patrone, die unkontrolliert umher fliegen, gibt es nur eine Wasserwolke. Bei näherer Begutachtung zeigt sich, dass das Handy komplett zerlegt wurde. Die einzelnen Teile werden später zur Spurensuche an die Kriminaltechnik übergeben. Und wenn die Kiste durch den Beschuss explodiert wäre und den Roboter zerstört hätte? „Dann ist das eben so“, sagt Winter und zuckt mit den Achseln. „Besser der Roboter als ein Mensch.“  

Technikaffin sollte man sein, körperlich fit und stressstabil, nennt Winter Voraussetzungen,  um im Entschärfungsdienst zu arbeiten. Grundsätzlich könne sich dafür aber jeder Bundespolizist nach seiner normalen Ausbildung bewerben. Sind die ärztlichen Hürden genommen, Eignungsauswahl und Sicherheitsüberprüfungen überstanden, folgen zahlreiche Lehrgänge und Spezialisierungskurse zu den Themenfeldern, mit denen Entschärfer in Berührung kommen. Sprengstoff, Munition und Handgranaten natürlich, dazu jede Menge Elektrotechnik, Chemie und Physik, aber auch Bereiche wie Gefahrguttransport oder Strahlenschutz. Seit 2020 gibt es eine zentrale Entschärferschule in Kassel, aus- und fortgebildet wird aber flexibel an zahlreichen Standorten in Deutschland.

Einsame Entscheidungen

Das umfangreiche Fachwissen ist ein Fundament für die Arbeit als Entschärfer, aber nicht das einzige. „Man muss schon relativ klar sein im Kopf“, umschreibt es Winter. Dazu gehöre die Einschätzung der Situation, aber auch das Erkennen der Tragweite des eigenen Handelns. Zum Beispiel bei der Entscheidung, einen Bahnhof abzusperren und den Zugverkehr zu stoppen. „Wohl wissend, dass nachher fast immer nichts war.“ Noch etwas anderes ist dem Dienststellenleiter wichtig. „Oft geht es um ziemlich einsame Entscheidungen. Man ist dann schon alleine da draußen und weiß, dass man liefern muss.“ Doch auch hier gelte: Kein Platz für Helden. „Man muss erkennen, wenn man an seine Grenzen stößt, fachlich wie körperlich. Und die Größe haben, dass dann auch zu  sagen. Sonst gefährdet man den Einsatz.“

*Name von der Redaktion geändert. 

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