Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Erinnerungskultur "Mehrheitlich stellen weiße Menschen die Fragen"

Die Bremer Erinnerungskultur ist ein Herzensthema von Thomas Köcher. Der Leiter der Landeszentrale für politische Bildung sieht viel Positives – warnt aber auch vor Selbstzufriedenheit.
07.03.2023, 05:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Von Frank Hethey

Herr Köcher, gerade wird das Arisierungsmahnmal an den Weser-Arkaden fertiggestellt, auf dem Osterholzer Friedhof soll der osteuropäischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen gedacht werden, zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus gibt es in Bremen jedes Jahr zahlreiche Veranstaltungen - klingt nach einer intakten Erinnerungskultur.

Thomas Köcher: Wir stehen tatsächlich ganz gut da, von den Behörden wird das Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus stark unterstützt und getragen. Trotzdem besteht die Gefahr, dass wir uns darauf ein bisschen zu sehr ausruhen. Es reicht nicht, jedes Jahr ein tolles Vortragsprogramm zum 27. Januar auf die Beine zu stellen. Sich damit zufrieden zu geben, halte ich für sehr gefährlich.

Sie meinen, wir brauchen neue Formate?

Wir stehen vor einem Generationswechsel. Die meisten Leute, die momentan noch die Erinnerungskultur tragen, sind in den 1980er-Jahren aktiv geworden und gehen jetzt in den Ruhestand. Gleichzeitig wächst eine neue Generation heran, die viel digitaler denkt und anders kommuniziert. Dem muss man Rechnung tragen.

Lesen Sie auch

Das digitalisierte Denkmal: Wollen Sie darauf hinaus?

Zumindest muss das Digitale mitgedacht werden. Zum Beispiel beim Arisierungsmahnmal. Sinnvoll wäre eine digitale Verknüpfung zu weiteren Orten, zum Beispiel dem Mahnmal vor dem Haus des Reiches...

... wo der Raub jüdischen Eigentums organisiert wurde . . . 

Genau, dafür müssen wir eine digitale Plattform finden. Und diese digitale Erinnerungskultur gibt es nicht umsonst. Dadurch werden wir aber auch der historischen Wahrheit eher gerecht: Arisierung kann man eben nicht nur an einem Ort denken, Arisierung fand überall in Bremen statt. Überall dort, wo jüdisches Eigentum enteignet wurde.

Spricht die etablierte Erinnerungslandschaft überhaupt noch unsere diverse Gesellschaft an?

Momentan ist unsere Erinnerungslandschaft sehr traditionell aufgestellt. Mehrheitlich stellen weiße Menschen die Fragen. Da muss man sich schon mal Gedanken darüber machen, wer gerade spricht und wer nicht. Ich würde mir wünschen, dass die post-migrantische, diverse Gesellschaft mehr zu Wort kommt. Wir müssen die Leute zum Sprechen bringen, die keinen biografisch-deutschen Bezug haben.

Lesen Sie auch

Im Grunde plädieren Sie dafür, das Potenzial der Erinnerungskultur voll auszuschöpfen.

Das leistet der Blickwinkel von migrantischen Menschen. Es geht darum, Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. Unsere Gesellschaft ist auch heute nicht allen gegenüber offen. Bestimmte Mechanismen von damals haben heute ihre Entsprechung. Denken Sie an Rassismus in unserer Gesellschaft oder andere Ausgrenzungsmechanismen. Das sind ganz aktuelle Fragen, darauf haben wir momentan ziemlich wenige Antworten. 

Zumal man nicht unterschätzen sollte, wie sehr Erinnerung und Vergangenheit politisch instrumentalisiert werden können.

Mein Eindruck ist tatsächlich, dass die Erinnerungslandschaft gerade in Gefahr gerät. Sie wird immer mehr zum Austragungsort politischer Auseinandersetzungen. Typisch ist die Forderung nach dem berühmten Schlussstrich. Aber genau den dürfen wir nicht ziehen.     

Sehen Sie denn noch Lücken in unserer Erinnerungslandschaft?

Es gibt noch einige Gruppen, die unterrepräsentiert sind. Für die Opfergruppe der Homosexuellen gibt es keinen historischen, authentischen Ort zum Gedenken, höchstens die Stolpersteine. Aber nur ein authentischer Ort bietet die Chance für ritualisiertes Gedenken. Eine zweite Gruppe sind die politisch Verfolgten.

Lesen Sie auch

Gibt es für die einen geeigneten Denkort?

Das Gefangenenhaus der Ostertorwache. Derzeit wird es sehr stiefmütterlich behandelt, es hat keine festen Öffnungszeiten und ist nur einmal monatlich geöffnet. Als Dokumentationsstätte wäre es hervorragend geeignet. 

Wenn man mal über das Gedenken an die NS-Verbrechen hinaus blickt: Sehen Sie noch mehr Ankerpunkte für kollektive Erinnerung? Bietet nicht auch der Kolonialismus einen Bezugspunkt? Auch wenn es natürlich schon das Antikolonialdenkmal als Denkort gibt.

Der Kolonialismus ist eine ähnliche Herausforderung wie der Nationalsozialismus. Der Kolonialismus hat in Bremen unglaublich viele Spuren hinterlassen. Für die Erinnerung würden die gleichen Maximen gelten: Wie schaffen wir es, das Analoge ins Digitale zu transferieren? Und wie gelingt es, gerade beim Thema Kolonialismus von der homogenen in die diverse, post-migrantische Gesellschaft zu wechseln? Und wie können wir unter 30-jährige Menschen unterstützen, ihre eigenen Fragen an die Vergangenheit zu stellen?

Das Gespräch führte Frank Hethey.

Zur Person

Der Politologe und Historiker Thomas Köcher (52) leitet seit 2013 die Landeszentrale für politische Bildung.

Zur Sache

Thomas Köcher spricht im Falstaff 

Über den Stand der Erinnerungskultur in Bremen spricht an diesem Dienstag Thomas Köcher, Leiter der Landeszentrale für politische Bildung und des Denkortes Bunker Valentin. Wesentliche Fragen sind: Wie kann und muss sich die Erinnerungskultur in Bremen für die Zukunft aufstellen? Welchen Anforderungen muss ein Gedenken zukünftig genügen? Und welche Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden, um zukünftigen Generationen Fragen zur nationalsozialistischen Vergangenheit zu ermöglichen?

Der Vortrag ist eine Veranstaltung der Landeszentrale für politische Bildung Bremen und des Vereins „Erinnern für die Zukunft“ im Rahmen des Programms zum „27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Beginn ist um 19 Uhr im Falstaff, Schulstraße 26. Der Eintritt ist frei.

Zur Startseite
Mehr zum Thema
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)