Die Begeisterung brach sich am Sonntag optisch wie akustisch Bahn. In Berlin und anderen deutschen Städten fuhren Deutsch-Türken mit ihren Autos durch die Straßen und feierten den Wahlsieg „ihres“ Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Den Hupkonzerten entsprach das Wahlverhalten: Nach Auszählung der Stimmen in Deutschland kam er auf 64,8 Prozent im Vergleich zu 52,6 Prozent insgesamt. Sein stärkster Mitbewerber Muharrem Ince von der linksliberalen Oppositionspartei CHP holte nur 21,9 Prozent, der Kandidat der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtas, 10,0 Prozent. Dabei war die Wahlbeteiligung mit 45,7 Prozent vergleichsweise hoch.
Hohe Zustimmung in Deutschland
Die hohe Zustimmung für Erdogan in Deutschland sorgte für empörte Reaktionen. Der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde, Ali Ertan Toprak, sagte: „Alle Türken, die die Errichtung eines Ein-Mann-Regimes auf deutschen Straßen feiern, zeigen damit, dass sie unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnen.“ Auch der grüne Außenexperte Cem Özdemir kritisierte die Erdogan-Anhänger. Sie hätten bei den Autokorsos „nicht nur gefeiert, dass ihr Alleinherrscher jetzt noch stärker Alleinherrscher wird“, sondern auch „ein bisschen eine Ablehnung zur liberalen Demokratie zum Ausdruck gebracht“, erklärte er.
Auf den zweiten Blick ist das Ausmaß der Erdogan-Begeisterung in Deutschland indes nicht so groß, wie es auf den ersten Blick scheint. Und da, wo diese Begeisterung existiert, gibt es Erklärungen dafür. Tatsache ist zunächst einmal, dass von den rund drei Millionen Deutsch-Türken bloß 1,4 Millionen wahlberechtigt sind. Von diesen wiederum schritten nur 45,7 Prozent zur Urne. Gülay Kizilocak vom Zentrum für Türkeistudien in Essen sieht darin ein Zeichen, dass die Hälfte der wahlberechtigten Deutsch-Türken mit der Türkei nichts zu tun haben wolle.
Dafür, dass die Zustimmung für den Präsidenten so hoch war, werden von Experten überwiegend zwei Gründe genannt. Kizilocak verweist erstens darauf, dass einst mehrheitlich Arbeitsmigranten aus ländlichen Regionen und bildungsfernen Schichten nach Deutschland gekommen seien. „Sie hängen an ihren traditionellen Werten.“

Die Wissenschaftlerin führt als zweiten Grund die bis heute mangelnde Integration vieler Deutsch-Türken an, auch von jungen. „Sie fühlen sich noch nicht richtig aufgenommen“, erklärt sie. Daraus resultierten „Trotzreaktionen“. Erdogan gebe den Nicht-Integrierten das Gefühl: „Ich bin euer Präsident.“ Man solle dies jedoch nicht mit ideologischer Nähe zu Erdogans Regierungspartei AKP verwechseln. Denn ansonsten neigten die meisten Deutsch-Türken eher zu SPD, Grünen und Linken.
Günter Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik warnt deshalb einerseits davor, das Wahlverhalten zu dramatisieren – zumal es in europäischen Nachbarländern ähnlich und teilweise noch AKP-lastiger sei. Andererseits sei es schon „ein Problem“.
Erdogan-Anhänger sorgten in Bremen für Ärger
Auch in Bremen haben Erdogan-Anhänger am Sonntag die Wiederwahl des Staatspräsidenten gefeiert und teilweise für Ärger gesorgt. Wie die Polizei berichtete, kam es am Abend zu Autokorsos, an denen sich etwa 50 Fahrzeuge beteiligten. Am Breitenweg hielten die Anhänger vor der Kreuzung der Bahnhofstraße und blockierten die Fahrbahnen. „Die Einsatzkräfte stellten viele Verkehrsverstöße fest, wie das Herauslehnen aus dem fahrenden Fahrzeug, das Blockieren von Kreuzungsbereichen sowie das Tanzen auf Fahrzeugdächern“, so ein Polizeisprecher.
Deutschtürken aus Bremen konnten in den vergangenen Wochen per Briefwahl in den Generalkonsulaten in Hannover und Hamburg abstimmen. Im Einzugsbereich des Generalkonsulats Hannover stimmten 60,1 Prozent für Erdogan, in Hamburg waren es 59,3. Damit erhielt der Staatspräsident eine erheblich geringere Zustimmung als die 64,8 Prozent im Bundesdurchschnitt.
Tief besorgt über die Anhänger Erdogans in Deutschland zeigte sich Cindi Tuncel, der für die Linke in der Bremer Bürgerschaft sitzt. „Diese Leute wollen keine auf Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten basierende Demokratie, die überzeugten AKP/MHP-Akteure wollen ganz offensichtlich eine autoritäre Herrschaft ihres neo-osmanischen Patriarchen Erdogan.“ Zum Wahlgang in der Türkei meinte Tuncel in einer Pressemitteilung: „Von einer fairen und freien Wahl konnte erneut keine Rede sein.“
Ernüchterung für alle
Helga Trüpel, aus Bremen kommende Vizepräsidentin des Kulturausschusses im Europaparlament, zeigte sich enttäuscht vom Ergebnis. „Der Ausgang der Wahlen ist eine Ernüchterung für alle, die gehofft hatten, Erdogan könnten diesmal die Grenzen aufgezeigt werden.“ In der Benachteiligung der Opposition habe sich erneut ein „Muster“ gezeigt, das man aus den vergangenen Wahlen in der Türkei kenne, erklärte die Grünen-Politikerin.
Gedanken über die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU macht sich Roy Karadag von der Universität Bremen. „Ich glaube, der Zug für einen EU-Beitritt der Türkei ist schon lange abgefahren. Formal wird zwar niemand von diesen Bemühungen Abstand nehmen, aber die EU wird das Thema versanden lassen“, sagte der Politologe gegenüber faz.net.