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Bremer Fallturm wird 25 Jahre Forschung im freien Fall

In ihm erzeugen Wissenschaftler Superatome am absoluten Nullpunkt, und Forscher ergründen das Verhalten von Tropfen für effektivere Verbrennungsmotoren: Der Bremer Fallturm wird 25 Jahre alt.
13.11.2015, 10:18 Uhr
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Von Jürgen Wendler

In ihm erzeugen Wissenschaftler Superatome am absoluten Nullpunkt, und Forscher ergründen das Verhalten von Tropfen für effektivere Verbrennungsmotoren: Der Bremer Fallturm wird 25 Jahre alt.

Der Fallturm ist nicht nur ein Bremer Wahrzeichen, sondern auch ein Symbol für Spitzenforschung.“ Dieses Zitat stammt von Professor Sigmar Wittig, von 2002 bis 2007 Vorstandsvorsitzender des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Formuliert hat er den Satz 2004, als im Fallturm die Katapultanlage in Betrieb genommen wurde. Am Sonntag, dem 15. November, haben Interessierte die Möglichkeit, sich die Forschungseinrichtung des Zentrums für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (ZARM) der Universität Bremen anzusehen. Anlass des Tags der offenen Tür ist ein Jubiläum: Seit 25 Jahren wird im Fallturm geforscht.

Wissenschaftler nutzen den 146 Meter hohen Turm, um zylindrische Kapseln mit Experimenten in die Tiefe stürzen zu lassen. Dabei entsteht für 4,74 Sekunden ein Zustand, der dem der Schwerelosigkeit im Weltraum ähnelt. Das Katapult bietet die Möglichkeit, die Dauer der Schwerelosigkeit zu verdoppeln. Mit seiner Hilfe wird die Kapsel zunächst mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Turmspitze befördert; kurz vor der Spitze stoppt sie und fällt dann herunter. Was dabei im Innern der Kapsel geschieht, lässt sich mit diesem Vergleich veranschaulichen: Wenn jemand mit einem schweren Buch in den Händen von einer Plattform spränge, würde er während des Falls das Gewicht des Buches nicht spüren.

Warum es für Wissenschaftler interessant ist, unter Bedingungen der Schwerelosigkeit zu forschen, zeigen unter anderem die Versuche zu Verbrennungsvorgängen, die in den vergangenen Jahren im Fallturm gemacht worden sind. Das Fehlen der Schwerkraft bietet Forschern die Möglichkeit, mit vergleichsweise großen und stabilen Tropfen zu arbeiten, wie sie unter normalen Bedingungen nicht entstehen würden. Dass es sich bei ihnen um kugelsymmetrische Gebilde handelt, erleichtert zudem die Beschreibung dessen, was in ihrer unmittelbaren Umgebung geschieht. Die Forscher können auf diese Weise genau untersuchen, was passiert, wenn ein Brennstofftropfen gezündet wird und dann andere Tropfen entzündet. Von einem besseren Verständnis der Abläufe erhoffen sie sich die Möglichkeit, Verbrennungsvorgänge in Motoren oder auch in Kraftwerksturbinen bestmöglich gestalten zu können – nicht zuletzt, um den Ausstoß an Treibhausgasen gering zu halten. Eine wichtige Rolle spielt dabei, dass Luft und Brennstoff vor der Zündung möglichst gleichmäßig durchmischt sind.


Anziehende Massen


Spitzenforschung bedeutet für die Mitarbeiter des Zentrums für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation auch, dass sie sich in ihren Arbeiten mit den Grundlagen des heutigen physikalischen Weltbilds beschäftigen. Wesentliche Teile davon gehen auf Albert Einstein zurück, der genau vor 100 Jahren – im November 1915 – der Fachwelt seine Theorie der Schwerkraft (Gravitation) vorstellte. In Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie spielen Massen, die sich aufgrund der Schwerkraft anziehen, eine zentrale Rolle. Bei einem einzelnen Atom handelt es sich genauso um eine Masse wie bei einem riesigen Himmelskörper. Aus der Theorie folgt unter anderem, dass die Zeit nicht überall gleich schnell verrinnt, sondern von der Schwerkraft abhängig ist. Die Zeit ist keine absolute, sondern eine relative Größe. Mit zunehmendem Abstand von einem Körper wie beispielsweise einem Planeten wird die Schwer- beziehungsweise Anziehungskraft schwächer. Dies hat auch Auswirkungen auf Uhren. Eine Uhr auf der Spitze des Fallturms geht ein wenig schneller als eine am Boden. Ein anderer Effekt, der sich aus Einsteins Spezieller Relativitätstheorie ergibt, besteht darin, dass die Zeit in einem bewegten System, etwa einem Raumschiff, langsamer vergeht.

Wissenschaftler, die sich mit Raumfahrttechnologien oder auch astronomischen Fragen befassen, kommen nicht umhin, solche Effekte zu berücksichtigen. Nur wer weiß, wie das Licht oder von Sonden zur Erde geschickte Botschaften in Gestalt elektromagnetischer Wellen von Himmelskörpern aufgrund ihrer Schwerkraft abgelenkt werden, kann das, was er sieht beziehungsweise empfängt, richtig erfassen und deuten. Auch die Satellitennavigation wäre ohne Berücksichtigung solcher Effekte undenkbar. Navigationsgeräte empfangen von Satelliten ausgesandte Radiowellen. Weil sich diese elektromagnetischen Wellen stets mit Lichtgeschwindigkeit, das heißt mit knapp 300000 Kilometern pro Sekunde, ausbreiten, erlaubt die Laufzeit der Signale Rückschlüsse auf den Abstand zwischen Satellit und Empfänger. Mithilfe der Signale von mehreren Satelliten kann ein Navigationsgerät die eigene Position errechnen. Dies setzt jedoch nicht nur genau gehende Uhren an Bord der Satelliten voraus, sondern auch die Berücksichtigung des Einflusses, den die Schwerkraft und die Bewegung auf die Zeit haben.


Atome unter Extrembedingungen


Vor diesem Hintergrund verfolgen die Fallturm-Forscher auch das Ziel, die von Einstein beschriebenen Effekte zu überprüfen. Wie Professor Claus Lämmerzahl, Direktor des Zentrums für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation, erklärt, werden ihnen dabei in nächster Zeit auch Daten helfen, die zwei Satelliten des im Aufbau befindlichen Navigationssystems Galileo gespeichert haben. Die beiden Satelliten hatten 2014 nicht die vorgesehene Höhe erreicht – mit der Folge, dass ihr Abstand zur Erde zwischen 17.500 und 25.000 Kilometern schwankt. Wie sich diese Schwankungen auf die Zeit auswirken, wollen die Experten anhand der gespeicherten Zeitdaten überprüfen.

Großes internationales Aufsehen haben schon vor einigen Jahren Arbeiten zu sogenannten Bose-Einstein-Kondensaten erregt, an denen neben den Bremer Wissenschaftlern auch Forscher aus anderen Städten beteiligt waren. Von dieser Grundlagenforschung erhoffen sie sich unter anderem, dass sie zur Entwicklung neuartiger Messgeräte beiträgt, mit denen sich zum Beispiel Lageänderungen von Satelliten bestimmen lassen. Physiker gehen davon aus, dass sich Atome wie Teilchen, aber auch wie Wellen verhalten können. Unter Extrembedingungen, wie sie bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt von minus 273,15 Grad Celsius herrschen, geschieht etwas, dessen theoretische Grundlagen Albert Einstein und der indische Physiker Satyendranath Bose in den 1920er-Jahren unabhängig voneinander formuliert hatten. Es entsteht ein Zustand, der nicht mehr den Gesetzen der klassischen Physik entspricht und den Fachleute heute mit dem Begriff Bose-Einstein-Kondensat verbinden. Verschiedene Atome lassen sich in diesem Zustand nicht mehr unterscheiden, sondern erscheinen als eine einzige Materiewelle, salopp formuliert: als ein einziges Superatom.

Fallturm-Forschern gelang es, unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit aus Tausenden Rubidiumatomen ein solches Kondensat zu erzeugen. Wärme hängt mit Bewegung zusammen. Die Wissenschaftler schafften es, die Atome herunterzukühlen, indem sie sie mit Laserhilfe abbremsten.

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Vorstellbar ist, dass solche Kondensate irgendwann als Grundlage für Messverfahren genutzt werden. Die sich überlagernden Materiewellen zweier Kondensate bilden ein Muster, das sehr empfindlich auf Lageänderungen reagiert. Mit einem Gerät, das sich dieses Phänomen zunutze macht, ließe sich die Beschleunigung eines Satelliten sehr viel genauer messen, als dies bislang möglich ist.

Wie Lämmerzahl erläutert, wird im Fallturm weiter an solchen Kondensaten geforscht. Außerdem würden Technologien entwickelt, um das von Einstein formulierte Äquivalenzprinzip testen zu können. Es besagt, dass im Vakuum alle Objekte gleich schnell fallen. Das bedeutet, dass es keinen Unterschied macht, ob es sich beispielsweise um eine Feder oder einen Stein handelt. Auch der Test des Äquivalenzprinzips auf der Ebene von Atomen setzt extrem genaue Messverfahren voraus.

Entsprechende Verfahren könnten laut Lämmerzahl letztlich auch helfen, Informationen über Veränderungen auf der Erde zu gewinnen, etwa bei der Eisbedeckung oder bei Grundwasservorkommen. Solche Veränderungen sind gleichbedeutend mit Veränderungen von Massen beziehungsweise der Schwerkraft, und diese lassen sich mit Satellitenhilfe messen. Abhängig von der Masse unter einem Satelliten verändern sich Anziehungskraft und Beschleunigung. Fliegen zwei Satelliten in einigem Abstand hintereinander, macht sich dies in einer kleinen, aber messbaren Änderung des Abstands zwischen ihnen bemerkbar.

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