Bremen. Rund 150 Menschen haben in Bremen keine feste Bleibe. Die Minustemperaturen machen ihnen das Leben auf der Straße derzeit nicht leichter. Während einige Obdachlose scheinbar noch ganz gut mit der Kälte klarkommen, leiden andere an schweren Erfrierungen. Ein Tag an der Seite eines Streetworkers.
Darek hat nun einen Fuß weniger. Erst ein paar Tage ist es her, dass der polnische Obdachlose vom Notarzt abgeholt wurde. Im Krankenhaus musste sein Fuß amputiert werden. Wegen Erfrierungen. Jetzt sitzt Darek schon wieder auf der Bahnhofsbank. Er dreht sich mit den Fingern seiner obendrein eingegipsten Hand eine Zigarette und erzählt fast beiläufig von jener kalten Nacht, in der ein Teil von ihm erfror.
Sein Zuhörer ist Jonas Pot d‘Or. Der Streetworker der Inneren Mission kümmert sich in Bremen um Obdachlose. Er fährt zu zentralen Punkten der Stadt, versorgt die Menschen mit heißen Getränken, hilft ihnen bei Behördengängen und beschäftigt sich mit ihren Schicksalsschlägen. Darek ist sein härtester Fall an diesem Tag. Keine Papiere, keine Wohnung und als Ausländer kaum Anspruch auf Sozialleistungen. Nun braucht er Hilfe. Die Amputation hat ihn geschwächt. Jonas Pot d‘Or greift zum Mobiltelefon, erkundigt sich nach freien Schlafmöglichkeiten, aber vorerst gibt es keinen warmen Platz für Darek.
Einige Stunden zuvor war der Arbeitstag des Streetworkers noch etwas entspannter: Der Sozialarbeiter sitzt in seinem weißen Lieferwagen und wartet auf seine Klienten. Das blaue Kreuz auf dem Auto, Symbol der Inneren Mission, kennen die Leute, denen er helfen möchte: die Obdachlosen Bremens. Rund 150, schätzt er, leben hier ohne festen Wohnsitz. Sie schieben Platte, wie es im Obdachlosen-Jargon heißt. Mit rund 30 von ihnen hat der Streetworker regelmäßig Kontakt. "Die meisten kommen von allein auf uns zu. Andere wollen lieber selbst zurechtkommen", sagt Pot d‘Or. Das müsse man akzeptieren. Mit dieser Haltung wollten sie sich womöglich ihr letztes bisschen Stolz auf ein selbstbestimmtes Leben bewahren. Obwohl fast jeder Anspruch auf einen warmen Platz in Hilfseinrichtungen habe, zögen viele das härtere Leben auf der Straße vor.
Schlafplatz bleibt Geheimsache
Anderen fällt es leichter, Hilfe anzunehmen. Die ersten beiden Wohnungslosen klopfen bereits an die Tür des Lieferwagens: Michael und Martin kommen auf einen Kaffee vorbei. Aufwärmen nach einer weiteren eiskalten Nacht. Ihre Nachnamen verraten sie nicht. Gesiezt werden wollen sie ebenfalls nicht. Macht auf Platte ja sonst auch keiner, meinen sie. Also nur: Michael und Martin.
Martin hat seine erste Nacht in einem gespendeten Schlafsack hinter sich. Der alte war durchnässt und kaputt. Irgendwo rund um den Bürgerpark hat er nun geschlafen, vielleicht unter einer Brücke oder in einem Hauseingang. "Ein Obdachloser erzählt nicht gerne von seinem genauen Schlafplatz", erklärt Pot d’Or. Aus Angst, dass am nächsten Tag jemand anders dort liegt.
Seine wichtigsten Sachen hat Martin immer dabei. Er ist einer der gut organisierten Wohnungslosen, selbst Nähzeug und einen Rasierer trägt er bei sich. Die Kälte mache ihm nichts aus. "Ich bin abgehärtet", sagt der 69-Jährige. Ein Arzt habe ihn letztens erst durchgecheckt. Martin, seit vier Jahren auf Platte, habe einen Blutdruck wie ein Sportler, hätte der Doktor gesagt. Wirklich gesund ist ein solches Leben aber dennoch nicht.
"Dauerhaft draußen zu sein, verkürzt die Lebensdauer im Schnitt um zehn Jahre", berichtet Pot d‘Or. Der Alkohol tue bei vielen noch sein Übriges dazu. Andererseits mache der Schluck aus der Bier- oder Schnapsflasche die eigene Situation oft auch erträglicher. Mit betäubten Sinnen sei eben vieles leichter zu ertragen.
Der Streetworker macht nun seine Runde im Bahnhofsquartier. Wer mit ihm durch die Straßen geht, für den werden die vielen Obdachlosen überhaupt erst sichtbar. Der Streetworker wird von den Bedürftigen schon von Weitem gegrüßt. "Die Leute erkennen im Vorbeigehen oft kaum, ob diese Menschen gerade vom Einkaufen oder von der Arbeit kommen oder eben obdachlos sind", sagt Pot d‘Or.
"Blicke der Leute kaum ertragbar"
Wie diese Menschen aber überhaupt auf die Straße gekommen sind, weiß selbst er nur in den wenigsten Fällen. Meist seien es Schicksale, die jeden treffen könnten. Der Verlust der Familie, plötzliche Arbeitslosigkeit und das Wegbrechen sozialer Kontakte. "Oft sind es zwei einschneidende Ereignisse, die auf einmal über einen hereinbrechen." Und diese Menschen kämen meist nicht mehr heraus aus ihrer Krise. Sie resignieren, verlieren ihr Selbstwertgefühl. Und auf der Straße wird es nicht einfacher.
"Du kannst die Blicke der Leute, die an einem vorbeigehen, auf Dauer kaum ertragen", sagt Ronny Brandt. Er ist Pot d‘Ors ehrenamtlicher Helfer. Und er hat einen noch besseren Draht zu den Wohnungslosen, sagt sein Kollege. Brandt war selbst mal auf Platte. Er hat den Absprung geschafft. Das gelinge nicht vielen.Brandt hilft nun seit einiger Zeit bei der Obdachlosenbetreuung. Zunächst sechs Jahre lang als Ein-Euro-Jobber, nun ganz ohne Bezahlung. Sein Geld verdient er mit anderen Minijobs.
Die Aussichten auf eine bezahlbare Wohnung seien für Obdachlose gesunken, sagt Jonas Pot d‘Or. Mietpreise schössen nur so in die Höhe, der soziale Wohnungsbau sei stark zurückgegangen, und die Stadt Bremen habe ihren eigenen Wohnungsbestand für Obdachlose von über 2000 auf wenige Hundert zurückgefahren. Dabei sei die Zahl der Bedürftigen hier vergleichsweise besonders hoch.
"Wir können die Welt nicht verändern. Wir können nur im Rahmen unserer Möglichkeiten helfen", sagt der Streetworker. Dareks Welt kann er an diesem Tag aber doch noch ein bisschen besser gestalten. Eine Kollegin ruft zurück. Sie hat doch noch einen warmen Schlafplatz für den frisch Amputierten gefunden. Für eine Nacht hat Darek nun ein Dach über dem Kopf – und Pot d‘Or ein Erfolgserlebnis.