Es ist diese Erinnerung, die Ivar Buterfas-Frankenthal auch heute noch bis in den Schlaf verfolgt: 1938, er war frisch eingeschult, schmiss ihn der nationalsozialistische Rektor vor der versammelten Schülermenge vom Schulhof. "Du darfst unsere Schule nie mehr besuchen", rief er dem verstörten Jungen noch hinterher, am Mast flatterte das Hakenkreuz. Noch auf dem Heimweg umzingelt ihn dann, so erzählt es Buterfas-Frankenthal an diesem Montagvormittag im Schulzentrum Utbremen, eine Horde von Hitlerjungen. Sie stellen ihn auf einen Rost, auf dem man sich eigentlich die Schuhe abtritt, zünden Papier an und werfen die brennenden Fetzen auf den Jungen. Der schreit um sein Leben, eine Passantin habe ihn dann gerettet.
Seit den 1980er-Jahren reist Buterfas-Frankenthal durch den deutschsprachigen Raum, um Schülerinnen und Schülern von dem Erlebten zu erzählen – seine Art, um mit den Dämonen des Schulhofs irgendwie Frieden schließen zu können. "Verzeihen, nicht vergessen" lautet das Motto des Holocaust-Überlebenden, der zwei Wochen vor Hitlers Machtergreifung in Hamburg zur Welt kam. Am Ende seines Vortrags im Schulzentrum Utbremen wird ihn eine Schülerin fragen, wie er das Erlebte bloß verarbeiten könne. Der 89-Jährige denkt nach, die Antwort auf die Frage scheint zu komplex oder zu persönlich, um sie in wenige Sätze zu verpacken, aber der vielleicht wichtigste Teil der Antwort ist seine Ehefrau Dagmar, mit der er seit 1955 verheiratet ist und die ihn bei all seinen Auftritten und Vorträgen unterstützt, so auch heute.
Sie beide sind jeweils Kinder einer christlichen Mutter und eines jüdischen Vaters. "Halbjude" hießen sie in der arischen Ideologie. Unter den Nationalsozialisten musste die Familie Buterfas ihre Wohnung räumen, später wurde ihnen die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen. Der Vater kam als "Moorsoldat" ins Konzentrationslager im Emsland, seine Mutter floh mit ihm und seinen Geschwistern Richtung Danzig, wo sie auf einem Hof unterkamen. Als sie nach mehr als einem Jahr dort geortet wurden, flohen sie zurück nach Hamburg, wo sie sich in wechselnden Kellern vor den Luftangriffen retteten. 1945 wurde der Vater aus dem Konzentrationslager befreit, die Familie musste sich jedoch bald schon ohne ihn weiter durchschlagen.
Erst 16 Jahre nach dem Krieg wird Buterfas wieder eingebürgert: Er habe die deutsche Staatsbürgerschaft "erworben", heißt es auf der Urkunde. "Dabei hatte ich sie doch schon besessen", sagt er den Schülerinnen und Schülern im Schulzentrum. Die jungen Zuschauer erhalten am Ende seines Vortrags einen Nachdruck jenes Fremdenpasses, den ihm die Stadt Hamburg 1952 ausstellte. Für Buterfas-Frankenthal ein "Schandmal".
"Antisemitismus nie so stark wie heute"
Immer wieder schlägt der Vortragende, der viele Jahre als Bauunternehmer tätig war, die Brücke in die Gegenwart. Auf ihn und seine Frau seien im Laufe der Zeit mehr als 40 antisemitische Übergriffe verübt worden, erzählt er. Als er sich vehement für die Einrichtung der Gedenkstätte Sandbostel eingesetzt hatte, habe er mehrere Wochen unter Polizeischutz gestanden; selbst eine Warnung des Verfassungsschutzes habe ihn aber nicht von öffentlichen Auftritten abhalten können. "Aber noch nie war der Antisemitismus so stark wie heute", sagt er und nennt die Anschläge von Hanau und Halle, die Corona-Demos, auf denen teils der Holocaust verharmlost werde, und den Mord an Walter Lübcke als Belege einer zunehmenden Radikalisierung.
Mehrmals appelliert er an das junge Publikum, nicht die falsche Partei zu wählen, nicht wegzusehen, wenn Unrecht geschieht, sich aber nicht selbst anzulegen mit "den Glatzköpfen und Springerstiefeln", sondern stets die Polizei zu rufen. Am Ende dann doch noch versöhnliche Worte über das Land, das er trotz der erlebten Grausamkeiten nie verlassen hat: "Wir leben in dem besten Land der Welt", sagt Buterfas-Frankenthal, der für sein Engagement mehrere Dutzend Auszeichnungen erhalten hat, in Richtung der Schülerinnen und Schüler. "Ihr werdet den 8. Mai 2045 erleben, das bedeutet: 100 Jahre Frieden in Deutschland."