Die bremische Landesverfassung formuliert eindeutig: „Jeder Bewohner der Freien Hansestadt Bremen hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung.“ Eingelöst wird diese Zusage in der Realität nicht. Rund 600 Menschen in der Stadt gelten als obdachlos, noch viel mehr haben keine eigene Wohnung.
Um das zu ändern, läuft in diesen Tagen das Modellprojekt "Housing First" in Bremen an. Es kommt keinen Tag zu früh, denn gerade die Corona-Pandemie habe laut Bremer Träger gezeigt, dass die „traditionellen Angebote der Wohnungslosenhilfe“ an ihre Grenzen stießen. „Begegnungsstätten für Wohnungslose oder Notunterkünfte mit Mehrbettzimmern sind unter Pandemiebedingungen nur begrenzt nutzbar“, heißt es, „das Gebot der Stunde ist jetzt, Menschen in Wohnungsnot eigenen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, der einen Rückzug in die sichere Privatsphäre ermöglicht.“
Was bedeutet "Housing First"?
Die Initiatoren von "Housing First" sprechen bei ihrem Ansatz von einem Paradigmenwechsel im Kampf gegen die Wohnungslosigkeit. Sie dreht das bisher gängige Prinzip einfach um. Obdachlose erhalten quasi bedingungslose Hilfe und zu allererst eine Wohnung. Das ist eine Abkehr vom Stufenmodell, in dem sich Wohnungslose über die Stationen Notunterkunft und Übergangsunterbringung etwa in Wohngemeinschaften für die eigenen vier Wände sozusagen erst qualifizieren müssen.
Wer kommt als Mieter in Frage?
"Housing First" richtet sich an obdachlose Menschen, darunter auch Suchtkranke und Menschen mit psychischen Erkrankungen. Die Zugangsvoraussetzungen sind vergleichsweise niedrig. Die Bewerber müssen den Wunsch nach einer eigenen Wohnung äußern. Sie sollen grundsätzlich fähig zum Abschluss eines Mietvertrages sein, das heißt, ein Verständnis von den Rechten und Pflichten eines Mieters haben. Zudem sollen sie die Bereitschaft zeigen, sich mindestens einmal pro Woche mit einem Projektmitarbeiter auszutauschen.
Ausgeschlossen vom Projekt sind Menschen mit einer akuten psychischen Erkrankung, die gefährlich für sich und andere sind. Auch Obdachlose, die nicht zu Absprachen fähig sind und/oder an Demenz oder starken Gedächtnisstörungen leiden, finden keine Aufnahme ins Projekt.
Wer setzt "Housing First" in Bremen um?
Die rot-grün-rote Landesregierung hat "Housing First" als eine Möglichkeit zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit im Koalitionsvertrag festgeschrieben. In Bremen haben sich zur Umsetzung die Vereine Wohnungshilfe und Hoppenbank zusammengeschlossen.
Hoppenbank, 1971 von engagierten Bremer Bürgerinnen und Bürger gegründet, bringt seine Expertise aus der sozialpädagogischen Arbeit ein. Hoppenbank kümmert sich also um die Betreuung der neuen Bewohner. Die Wohnungshilfe, 1982 ins Leben gerufen, übernimmt die Projektleitung und verantwortet die Akquise, Verwaltung und Vermietung der Wohnungen. Kooperationspartner sind das Ameos Klinikum, das für die medizinische Versorgung und psychologische Begutachtung zuständig ist, und Haus&Grund, das bei der Suche nach Wohnungen hilft. Denn das ist die wohl größte Herausforderung: das Finden von Wohnraum.
Wie können Eigentümer Wohnungen für Obdachlose zur Verfügung stellen?
"Housing First" peilt laut Projektbegleiterin Hannah Beering für Bremen an, in diesem Jahr 35 Wohnungen und im nächsten Jahr 35 Wohnungen an Obdachlose zu vermieten. Die Wohnungen sollten ein bis zwei Zimmer haben und maximal 50 Quadratmeter groß sein. Der maximale Mietpreis liegt bei 370 Euro Nettokaltmiete, in den beliebteren Stadtteilen bei maximal 430 Euro. Mieter können zwischen zwei Modellen wählen.
Modell 1: Der Verein Wohnungshilfe mietet die Wohnung an und vermietet sie weiter. Alle Rechten und Pflichten werden von der Wohnungshilfe übernommen. Sie sichert die Mietzahlung, führt notwendige Schönheitsreparaturen aus und kommt für entstandene Schäden auf.
Modell 2: Es wird ein direkter Vertrag zwischen Vermieter und Mieter geschlossen. In den ersten drei Jahren gibt die Wohnungshilfe eine Mietausfallgarantie. Sie erstattet ebenfalls möglicherweise entstandene Schäden. Laut des Bremer "Housing First"-Trägers, der Mitte Januar sein Büro in der Pappelstraße 23 eröffnet, geht der Vermieter bei beiden Modellen kein höheres Risiko als sonst ein.
Wie sind die Erfahrungen mit Housing First?
Das Pilotprojekt "Housing First" in Berlin weist eine hohe Erfolgsquote auf. Vier von fünf Personen haben dort den Wechsel von der Straße in eine Wohnung geschafft. Diese Erfahrung deckt sich mit Ergebnissen aus den USA, wo sich "Housing First" längst etabliert hat. Laut dortiger Forschung ist erwiesen, dass bei acht von zehn Projektteilnehmern die Wohnungslosigkeit dauerhaft endet.
In Deutschland setzen immer mehr Großstädte auf "Housing First". In Europa ist Finnland Vorreiter. Dort ist "Housing First" eine nationale Aufgabe. Das ehrgeizige Ziel: Bis 2027 will Finnland Obdachlosigkeit abgeschafft haben.