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Inflationsfolgen Sorge vor hohen Nachzahlungen

Die Sozial- und Schuldnerberatungen erwarten viel Zulauf, wenn die höheren Energiepreise bei den Nebenkostenabrechnungen durchschlagen. Für Geringverdiener sind schon jetzt die Lebensmittelpreise ein Problem.
23.06.2022, 05:00 Uhr
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Sorge vor hohen Nachzahlungen
Von Timo Thalmann

Wo die Einkommen und Renten niedrig sind oder der Alltag vollständig mit Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld (ALG) bewältigt werden muss, wirken sich vor allem die derzeit steigenden Lebensmittelpreise unmittelbar aus. "Wir sind am Anschlag", berichtet Uwe Schneider, Vorsitzender der Bremer Tafeln. Neue Kunden, die zur Tafel kommen wollen, könne man nicht mehr aufnehmen. Auf der einen Seite sei die Nachfrage nach den günstigen Lebensmitteln aus den Restspenden des Einzelhandels stark gestiegen, auf der anderen Seite fielen die verfügbaren Reste derzeit sehr viel geringer aus als üblich. "Die Händler disponieren momentan angesichts der gestiegenen Preise und vieler Engpässe bei den Lieferungen viel knapper als noch vor wenigen Monaten. Da bleibt nicht mehr so viel übrig für Lebensmittelspenden", bilanziert Schneider.

Das merken laut Cornelius Peters von der Sozialberatung der Caritas sogar diejenigen mittellosen Menschen, die sich auf das sogenannte Containern verlegt hätten und unmittelbar nach Ladenschluss die Abfallbehälter von Supermärkten nach noch verwertbaren Lebensmitteln durchsuchten. "Da wird die Ausbeute auch stetig geringer."

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Immer stärker nachgefragt ist laut Sylvia Schikker vom SOS-Kinderdorfzentrum in der Neustadt der dort täglich angebotene günstige Mittagstisch. "Die Menschen kommen dafür aus der ganzen Stadt zu uns, selbst aus Bremen-Nord." Ähnlich wie bei den Tafeln ist dafür der Nachweis notwendig, Transferleistungen zu beziehen. Dann zahlt man nur ein Drittel des üblichen Preises. Kinder bis sechs Jahre essen komplett kostenlos. "Eine Alleinerziehende mit kleinen Kindern kann hier ein Mittagessen für alle mit zwei Euro bestreiten", betont Schikker. Auch der Einkauf im Kinder-Secondhand des Zentrums oder kostenpflichtige Kurs- und Freizeitangebote des Kinder- und Familienzentrums sind entsprechend verbilligt. "Das wird auch viel genutzt."

Für René Böhme ist das nicht überraschend. "Die aktuelle Inflation seit Jahresbeginn bedeutet bei 449 Euro Grundsicherung einen monatlichen Kaufkraftverlust von 35 bis 40 Euro", rechnet der Sozialwissenschaftler und Armutsforscher der Universität Bremen vor. Die Betroffenen seien geradezu gezwungen, sich nach Alternativen zur regulären Alltagsversorgung umzuschauen. "Schon die Pandemie hat die bestehenden Unterschiede zwischen Gut- und Geringverdienern weiter verschärft", sagt Böhme. Jetzt komme mit der Verteuerung von Lebensmitteln und Energie durch den Ukraine-Krieg eine weitere Krise dazu, wobei die Pandemie noch gar nicht ausgestanden sei. "Abhängig von der Dauer des Krieges wird das für viele Geringverdiener in der zweiten Jahreshälfte wahrscheinlich eine noch schwierigere Lage bedeuten", sagt Böhme.

Dies befürchten auch Martin Lühr von der Aktionsgemeinschaft Arbeitsloser Bürger (Agab) und Michael Bornmann von der Solidarischen Hilfe. Die beiden Vereine bieten mit insgesamt sieben Anlaufstellen für die Sozial- und Schuldnerberatung in Bremen ein wichtiges Auffangnetz, nicht bei finanziellen Notlagen. "In unseren Beratungsstellen ist aktuell zwar nicht mehr Nachfrage als sonst, aber das dürfte die Ruhe vor dem Sturm sein", mutmaßt Lühr. Er ist sich sicher, dass vor allem die gestiegenen Energiepreise zeitversetzt zum Problem werden, wenn zum Jahresende die Nebenkostenabrechnungen in die Haushalte flattern und hohe Nachzahlungen sowie stark gestiegene Vorauszahlungen für Heizung und Strom gefordert werden. "Dann dürften sich wahrscheinlich viele mit den Abrechnungen auf den Weg zu uns machen."

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Die Caritas versuche schon jetzt, in den Sozialberatungen darauf hinzuwirken, dass die Menschen aktiv werden und beispielsweise von sich aus die Vorauszahlungen erhöhen, damit Nachzahlungen nicht zu hoch ausfallen. "Das ist für viele allerdings eine große Herausforderung", berichtet Peters. Laut Bornmann haben die Bezieher von Sozialhilfe oder ALG II ohnehin keine großen Spielräume für solche Umschichtungen. Allerdings besteht bei ihnen auch der Anspruch, dass die Heizkosten von der Behörde übernommen werden, zumindest solange die Kosten als "angemessen" gelten. "Wie das von den Jobcentern in der Praxis ausgelegt wird angesichts der gestiegenen Preise, müssen wir abwarten."

Als deutlich problematischer schätzen die Berater die Lage von Geringverdienern ein, die mit ihrem Einkommen knapp über dem Anspruch auf Grundsicherung liegen. Sie müssen Preissteigerungen ohne Unterstützung stemmen. "Das betrifft auch die sogenannten Aufstocker, die kleine Einkommen mit Hartz IV ergänzen", sagt Berater Fabian Rust. Die pauschalen Freibeträge beim eigenen Einkommen seien beispielsweise angesichts der aktuellen Benzinpreise zu niedrig. "Man kann dann als Pendler die realen Kosten über Kilometergeld geltend machen, aber die Ämter informieren nicht über diese Möglichkeit." Auch hier müssten die Betroffenen selbst aktiv werden.

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