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U-Ausschuss Sozialbetrug Bremerhaven Jobcenter-Chef reicht Verantwortung weiter

Trägt der Zoll eine Mitschuld daran, dass in Bremerhaven so spät auf den massenhaften Sozialleistungsbetrug durch südosteuropäische Armutsmigranten reagiert wurde?
20.01.2017, 16:40 Uhr
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Jobcenter-Chef reicht Verantwortung weiter
Von Jürgen Theiner

Trägt der Zoll eine Mitschuld daran, dass in Bremerhaven so spät auf den massenhaften Sozialleistungsbetrug durch südosteuropäische Armutsmigranten reagiert wurde?

Diese Frage steht nach der Aussage des Leiters des dortigen Jobcenters, Friedrich-Wilhelm Gruhl, vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) im Raum. Gruhl war am Freitag der zweite Zeuge des Gremiums, das die Hintergründe des Skandals ausleuchten soll. Wie berichtet, waren zwischen 2013 und 2016 rund 1000 türkischsprachige Menschen aus Bulgarien, Rumänien und Griechenland in die Seestadt gekommen.

Durch zwei Vereine mit Scheinarbeitsverträgen ausgestattet, bezogen sie Hartz-IV-Leistungen im Gesamtvolumen von rund sechs Millionen Euro. Außerdem zahlte das Jobcenter rund 600.000 Euro für Nachhilfestunden an einen der beiden Vereine, obwohl die Migrantenkinder diese Leistungen zumindest teilweise gar nicht erhielten.

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In seiner Befragung durch den Ausschuss widersprach Gruhl zunächst vehement dem ersten Zeugen, den der PUA am Dienstag gehört hatte. Bremerhavens Sozialdezernent Klaus Rosche hatte behauptet, er habe Gruhl im Sommer 2015 drängen müssen, Strafanzeige wegen des mutmaßlichen organisierten Betrugs zu erstatten. "Das kann ich in keinster Weise bestätigen", stellte Gruhl klar.

Strafverfolgungsbehörden wurden erst spät eingeschaltet

Doch ob nun auf Druck oder aus freien Stücken – warum schaltete Gruhl erst im August 2015 die Strafverfolgungsbehörden ein? Schließlich lagen auch nach seinen Worten bereits 2013 erste Anhaltspunkte dafür vor, dass irgendetwas faul war am plötzlichen Zustrom von Südosteuropäern und an ihren Arbeitsverträgen, die zu aufstockenden Leistungen des Jobcenters berechtigten.

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Mit dieser Frage traktierten die Ausschussmitglieder Gruhl immer wieder. Der Jobcenter-Chef stellte den Ablauf so dar: Nachdem sich in der zweiten Jahreshälfte 2013 Hinweise auf systematische Gaunereien ergeben hätten, habe er im Januar 2014 diverse einschlägige Unterlagen des Jobcenters an den Zoll gegeben. Diese Behörde bekämpft unter anderem Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung.

Der Zoll habe aber anderthalb Jahre bis zu einer abschließenden Stellungnahme gebraucht, und diese sei dann auch noch überaus enttäuschend gewesen – man sei nicht zuständig, habe der Zoll ihm mitgeteilt, so Gruhl. Mittlerweile befand man sich im Sommer 2015. Daraufhin habe er den Entschluss gefasst, die Polizei einzuschalten.

"Das lasse ich gegen mich gelten"

Wartet man anderthalb Jahre auf eine Antwort des Zoll, ohne zwischendurch mal nachzuhaken? Hätte Gruhl nicht bereits im Januar 2014 parallel zum Zoll auch an die Polizei herantreten können? Mit diesen Fragen brachten Sülmez Dogan (Grüne) und Hauke Hilz (FDP) den Jobcenter-Chef in Erklärungsnöte. Was er entgegnete, empfanden die PUA-Mitglieder parteiübergreifend als nicht sonderlich überzeugend.

Für eine Strafanzeige bei der Polizei seien die Verdachtsmomente Anfang 2014 noch nicht substanziell genug gewesen, so Gruhl. Eine Strafanzeige stelle einen "sehr schweren Eingriff" dar, der wohl begründet sein müsse. Auf weiteres Nachfassen der Abgeordneten räumte Gruhl dann aber doch ein, dass sein Zögern und sein Vertrauen auf den Zoll möglicherweise ein Fehler waren. "Das lasse ich gegen mich gelten", so Gruhl.

Von den über sechs Millionen Euro, die zwischen 2013 und 2016 zu Unrecht flossen, wird die öffentliche Hand kaum einen Cent wiedersehen, so viel erscheint klar. Laut Gruhl hat seine Behörde zwischenzeitlich zwar Rückforderungen an die südosteuropäischen Migranten verschickt, doch die meisten von ihnen seien für das Jobcenter inzwischen nicht mehr greifbar.

Diverse Briefe seien als unzustellbar zurückgekommen. "Ich sehe keine Realisierungsmöglichkeit mehr", räumte Gruhl ein. Finanzielle Forderungen an die beiden mutmaßlich kriminellen Vereine "Agentur für Beschäftigung und Integration" und "Gesellschaft für Familie und Gender Mainstreaming", die die Scheinarbeitsverträge ausgestellt hatten, bestehen offenbar nicht. Auch bei den Nachhilfestunden sind die Migranten die Adressaten der Rückforderungen.

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