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Interview mit Sozialsenatorin Stahmann „Kann Armut nicht abschaffen“: Soziale Spaltung in Bremen-Nord

Im Interview spricht Sozialsenatorin Anja Stahmann davon, dass Investoren die Quote für den sozialen Wohnungsbau umschiffen. Sie will jetzt darüber reden, wie die Quartiere besser durchmischt werden.
02.01.2018, 06:00 Uhr
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„Kann Armut nicht abschaffen“: Soziale Spaltung in Bremen-Nord
Von Patricia Brandt

Frau Stahmann, gerade wurde bekannt, dass die soziale Spaltung in Nord zunimmt und sich Blumenthal und Teile Vegesacks weiter vom Rest der Stadt abkoppeln. Wie im noch unveröffentlichten Integrierten Struktur- und Entwicklungskonzept Bremen-Nord zu lesen ist, sehen Fachleute große Probleme. Für wie bedrohlich halten Sie die Situation?

Anja Stahmann: Großstädte bieten in der Regel bessere Lebensperspektiven für Menschen in Armutslagen und prekären Einkommenssituationen. Darum ziehen sie Armut an. Das gilt nicht nur für Bremen, das gilt praktisch in der ganzen Welt. Auch die Tendenz zur sozialen Spaltung der Städte ist kein neues Phänomen. Relativ neu ist, dass Politiker und Wissenschaftler das problematisieren und nach Rezepten zum Gegensteuern suchen, weil sie den sozialen Frieden sichern wollen.

Experten sehen ein Risiko darin, dass es zu einem hohen Zuzug von Menschen aus dem Ausland gekommen ist, aber gleichzeitig die Infrastruktur fehlt. Es gibt zu wenig Kita­plätze und Lehrer an Brennpunktschulen und zu viel Arbeitslosigkeit. Haben Sie ­diese Entwicklung kommen sehen?

Auch wenn Sie meinen, die Bevölkerungsexplosion und der Zweite Weltkrieg liegen lange zurück: Städtebaulich sind die Spuren bis heute prägend. Es gibt gewachsene, kleinteilige städtische Strukturen, da mischen sich Bevölkerungen in der Regel stärker. Und es gibt die großen Wohnungssiedlungen an den Stadträndern. Die waren in den 60er-Jahren noch ein Durchbruch bei der Modernisierung von Wohnraum. Aber einige städtebauliche Visionen sind an der Realität zerschellt: Gerade Bremen-Nord hatte erhebliche Leerstände, und so haben sich hier viele Menschen mit geringem Einkommen angesiedelt, auch und in besonderem Maße zugewanderte. Das war vor ein, zwei Jahren nicht absehbar.

Aber heute könnte man doch für Kitaplätze und Lehrer sorgen.

Die Aufnahme von Geflüchteten und Zuwanderern aus der Europäischen Union stellt alle Systeme vor große Herausforderungen, das ist unbestritten. Dabei stand über Jahre die Sozialbehörde im Fokus. Aber der hat sich in der Tat verlagert. Die Anforderungen an Kinderbetreuung, Bildung und Arbeitsmarkt rücken an die erste Stelle. Und die Herausforderungen sind in diesen Systemen keineswegs geringer, das ist eine Tatsache.

Viele Probleme wie die im Brennpunktgebiet Grohner Düne werden seit Jahren in Fachgremien diskutiert. Ärgert es Sie nicht, dass sich bisher relativ wenig getan hat?

Ich teile Ihre Auffassung ganz und gar nicht. Nach meiner Wahrnehmung hat sich viel getan. Es gibt gute Nachbarschaften in der Düne und Menschen, die sich sehr wohlfühlen. Das wird leicht übersehen, obwohl man es auch in der Norddeutschen immer wieder nachlesen kann. Unbestritten ist auch: Die Düne hat Probleme. Und die lassen sich nicht per Knopfdruck abschalten, weder durch politische Willensbekundungen noch durch kurzfristige Maßnahmen. Die erforderliche Tugend ist Beharrlichkeit. Der Beauftragte des Rathauses für Bremen Nord führt intensive Gespräche, auch mit dem Eigentümer. Alle in Nord verankerten Behörden, Institutionen, Träger und sozialräumlich wirkenden Akteure sind eingebunden, und ich bekomme durch die Bank positive Rückmeldungen. Ich bin zuversichtlich, dass sich die Düne weiterhin positiv weiterentwickeln wird. Nicht in riesigen Sprüngen, aber Schritt für Schritt.

Der Senat wollte 2016/2017 Einzelprojekte in Höhe von 3,5 Millionen Euro zur Aufwertung der Grohner Düne umsetzen. So sollten der Bahnhofsvorplatz und die Friedrich-Klippert-Straße umgestaltet werden. Doch bisher ist das nicht passiert. Warum geht es derart stockend voran?

Ich sehe im Senat sehr positive Signale, alle Beteiligten stehen in den Startlöchern, und im neuen Jahr wird der Startschuss für Investitionen in Millionenhöhe fallen – übrigens auch mit sechsstelligen Summen des Eigentümers, und das ist ein beachtlicher politischer Erfolg, den man nicht kleinreden soll.

Es ist doch richtig, dass längst hätte Geld nach Vegesack fließen sollen. Warum wurden die angekündigten Maßnahmen nicht umgesetzt? Das muss doch im Arbeitskreis Bremen-Nord besprochen worden sein, in dem auch Ihr Ressort vertreten ist.

Nicht überall, wo mein Ressort vertreten ist, hat es auch Entscheidungsgewalt.

Davon abgesehen, dass das Angebot des SOS-Kinderdorfes, einen Mittagstisch für Kinder in der Grohner Düne anzubieten, ehrenwert ist: Das Engagement von privater Seite allein reicht nicht.

Sie reden die Erfolge klein, das wird den Bemühungen der Beteiligten nicht gerecht. Und auch was die Düne angeht, können Sie in den nordbremischen Medien durchaus differenzierte Darstellungen finden. Es gibt ein ganzes Netzwerk, in dem auch Schule, Kindergarten, der Sport und Sozialpädagogen ihre Beiträge leisten. Sozialpädagogische Arbeit kommt meist unscheinbar daher und ist selten spektakulär. Aber man darf die Bedeutung nicht unterschätzen, die zum Beispiel Kinderspielkreise haben für Begegnung, Austausch und Integration, oder der Kinderkleidung- und Spielzeug-Secondhandladen. Hier holen wir die Menschen ab, reflektieren Wertmaßstäbe, zeigen Handlungsoptionen auf und Lösungen für scheinbar unlösbare Probleme.

In Lüssum-Bockhorn leben überdurchschnittlich viele Alleinerziehende, die Kinderarmut ist hoch und doch gibt es keine Betreuungsangebote und Sprachförderung. Zeigt das nicht die Hilflosigkeit der Politik?

Wenn Sie so fragen, empfehle ich Ihnen einen Besuch im Haus der Familie Lüssum-Bockhorn. Es bietet seit Jahren unter anderem auch Sprachintegration und viel Elternarbeit an.

Und das reicht Ihnen?

Von allem, was man tut, könnte man mehr tun, und gute, erfolgreiche Arbeit ist immer auch ausbaufähig. Wir könnten in diesen Bereich noch mehr Geld investieren, und das würde sich langfristig auch auszahlen. Dafür streite ich in meinem Job immer und immer wieder.

Der Arbeitskreis Bremen-Nord tritt in der ­Öffentlichkeit praktisch gar nicht mehr in Erscheinung. Hat die Runde aufgesteckt?

Unser Haus ist in dem Arbeitskreis vertreten, und ich bekomme sehr positive Rückmeldungen, die Zusammenarbeit läuft konstruktiv und lösungsorientiert. Aber erwarten Sie bitte nicht jede Woche neue, tolle Vorschläge, die die Welt retten, oder zumindest die Düne. Den Erfolg unterstützender Angebote für die Lebenslagen von Menschen muss man in langen Zeiträumen denken, nicht in Wochen und Monaten. Den nächsten größeren Schritt des Arbeitskreises erwarte ich im Frühjahr, wenn das Integrierte Stadtteilkonzept einen Stand erreicht hat, dass es intensiv diskutiert werden kann.

Mit Beginn der Koalition war es doch gemeinsamer Wille, die Gräben innerhalb der Gesellschaft zuzuschütten. Da ist die Regierung nicht weitergekommen.

Auch die engagierteste Sozialsenatorin kann Armut nicht abschaffen, die Ursachen sozialer Ungleichheit sind vielschichtig. Wer Gräben in der Gesellschaft überwindbarer machen will, der muss in Bildung von Anfang an investieren, in vergleichbare Lebenschancen für Kinder aus unterschiedlichen Milieus, der muss Menschen den Weg zu einer sinnstiftenden und existenzsichernden Arbeit ebnen, Alleinerziehende unterstützen und Hilfen in schwierigen Lebenslagen anbieten. All das passiert in Bremen, auch in Bremen-Nord.

Und es lassen sich Effekte messen: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Stadtbezirk Nord zum Beispiel ist seit 2006 um 20 Prozent angestiegen, unter Ausländern sogar um 60 Prozent. Und die Zahl der Arbeitslosen ist von März 2006 bis März 2017 gesunken, von 7400 auf 5900. Sogar die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist zurückgegangen.

Die CDU fordert ein Sonderinvestitionsprogramm für den Bau von Kindertagesstätten, Schulen sowie für die Bereitstellung von ­Personal in Bremen-Nord. Halten Sie diese Forderung für klug?

Schon aus beruflichen Gründen muss es mir schwerfallen, der Opposition Klugheit zu unterstellen. Aber im Ernst: Natürlich ist es richtig, die soziale Infrastruktur zu ertüchtigen, und dazu gehören ganz wesentlich auch Kindergärten und Schulen. Das ist eine Binsenweisheit. Man darf nur nicht den Fehler machen, Stadtteile gegeneinander auszuspielen. Die Zuständigkeit für Kitas und Schulen liegt aber in den Händen meiner Senatskollegin Claudia Bogedan. Und ich bin überzeugt, dass sie dort mit großem Verantwortungsbewusstsein wahrgenommen wird.

Nehmen Sie die alarmierende Entwicklung persönlich zum Anlass, im Norden der Stadt 2018 tätig zu werden? Was werden Sie tun?

Politik ist gut beraten, nicht von Schnellschuss zu Schnellschuss zu eilen, sich nicht von Interview zu Interview treiben zu lassen. Ich denke, es ist deutlich geworden, dass der Senat und wichtige Teile der Zivilgesellschaft hier in Nord nicht die Hände in den Schoß legen. Alle gemeinsam arbeiten an einem Prozess, der Verbesserungen bringen wird, nicht in riesigen Sprüngen, wie gesagt, aber Schritt für Schritt.

Das Interview führte Patricia Brandt.

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