Bremen-Nord. Heike Binne erlebt es immer wieder: Eltern fragen, was sie machen sollen, wenn sie mit der Tochter oder dem Sohn zum Kinderarzt müssen – aber abgewiesen werden. „Weil ihre Praxen völlig überlaufen sind“, sagt die Lüssumer Quartiersmanagerin, „nehmen Mediziner keine neuen Patienten mehr an.“ Das Problem ist nicht neu, aber mittlerweile so groß, dass Erzieher, Psychologen und Sozialarbeiter beraten haben, was sie unternehmen können. Sie fordern Hilfe. Genauso wie Mediziner und Politiker.
Es ist nicht das erste Mal, dass Menschen aus dem Viertel und die Quartiersmanagerin einen Ärztenotstand beklagen. Vor einem Jahr forderten sie mehr Allgemeinmediziner. Heike Binne schrieb Brandbriefe an die Gesundheitsbehörde, die Kassenärztliche Vereinigung, an die AOK, HKK und BKK. Ob sie diesmal wieder Post an dieselben Adressaten verschickt, weiß die Sozialarbeiterin noch nicht, aber: „Möglich wäre das.“ Schließlich seien die Schwierigkeiten bei den Kinderärzten heute nicht kleiner als bei den Hausärzten damals.
Im Gegenteil. Sie haben es inzwischen in die Fragestunde der Bürgerschaft geschafft. Für Kirsten Kappert-Gonther ist es nämlich kein Zustand, wenn Praxen von Kinderärzten so voll sind, dass sie neue Patienten nicht mehr annehmen. Eigentlich wollte die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen wissen, was denn das Landesgremium Bremen-Bremerhaven, in dem die Behörde ebenso sitzt wie die Kassenärztliche Vereinigung, erreichen konnte, damit die ihrer Ansicht nach ungleich verteilten Ärzte gleicher verteilt werden.
Die Antwort des Ressorts war für die Abgeordnete der Bürgerschaft nicht sonderlich zufriedenstellend: Die Gespräche laufen noch. Mehr konnte Gesundheitsstaatsrat Gerd-Rüdiger Kück dazu nicht sagen. Das war vor zwei Wochen. Einen neuen Stand gibt es nicht. Jedenfalls weiß Christina Selzer, Sprecherin von Gesundheitssenatorin Eva Quante-Brandt (SPD), von keinem. Wie Kück sieht deshalb auch sie keine Möglichkeit, schnell Abhilfe bei den Kinderärzten zu schaffen. Weder im Bremer Norden noch in anderen Gebieten der Stadt.
Kappert-Gonther erwartet jedoch zügig eine Strategie, um die Lücken bei den Kinderärzten zu schließen. „In Gröpelingen“, sagt die Politikerin, „gibt es schon lange Engpässe.“ Und in Tenever fehlen nach ihren Worten so viele Mediziner für Kinderheilkunde, dass Eltern gar keine andere Wahl bleibt als nach Osterholz zu fahren, wenn die Tochter oder der Sohn krank ist. Kappert-Gonther: „Dass jemand ausnahmsweise mal längere Wege mit seinem Kind hat, wird sich nie ganz vermeiden lassen. Aber zur Regel darf das nicht werden.“
Ist es aber eben schon längst. Nicht bloß in Gröpelingen, sondern auch in Blumenthal. Joachim Schlage und Andreas Mühlig-Hofmann wissen das. Sie gehören zu den Kinder- und Jugendärzten, die Stopp gesagt haben, weil sie irgendwann den Andrang von Patienten in ihrer Gemeinschaftspraxis nicht mehr bewältigen konnten. „In manchen Wochen“, sagt Schlage, „sollten wir zwischen 20 und 30 neue Patienten aufnehmen.“ Sowohl er als auch sein Kollege arbeiten mehr als gewöhnlich, dennoch werden die Wartezeiten der Patienten länger.
Der Engpass an Kinderärzten hat aus ihrer Sicht diverse Gründe. Mühlig-Hofmann spricht von mehr Menschen, die in den Stadtteil ziehen. Von mehr Kindern, die geboren werden. Und Kollege Schlage davon, dass es vor Jahren noch doppelt so viele Kinderärzte gab. „Alles zusammen“, meint er, „hat die Probleme potenziert.“ Sie zu lösen, ist ihnen zufolge nur auf eine einzige Weise möglich: Ein neuer Kinderarzt muss her. Beide finden, dass die Kassenärztliche Vereinigung mehr unternehmen muss als sie bisher unternommen hat, jemanden zu finden.
Geringere Verdienstchancen
Das sagt sich so leicht, wenn Mediziner in ihren Bewerbungen an den Zusammenschluss der Kassenärzte ausdrücklich schreiben, gerne in Bremen arbeiten zu wollen – aber bitte nicht im Norden. Joachim Schlage und Andreas Mühlig-Hofmann können sich denken, warum junge Ärzte andere Gebiete der Stadt vorziehen. Zum einen wegen des sozialen Umfelds, das schwieriger sei als beispielsweise in Schwachhausen. Zum anderen wegen der Verdienstchancen, die geringer wären, weil es in Blumenthal mehr Kassen- als Privatpatienten gebe.
Für Jörg Hermann hingegen ist Bremen insgesamt gesehen ein attraktiver Standort für Vertragsärzte. Und die Stadt gut mit Medizinern versorgt. Eigentlich sogar zu gut. Der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung sagt, dass die Versorgung bremenweit bei 157 Prozent und im Norden bei 121 Prozent liegt. Und dass man von einer Überversorgung spricht, wenn die 110-Prozent-Marke überschritten wird. Dass es in manchen Quartieren besser aussieht als in anderen, weiß auch er, nur: „In einem Zentrum gibt es von jeher mehr Ärzte als in Randlagen – das ist kein Bremer Phänomen.“
Hermann ist es immer noch lieber, wenn neue Mediziner in die Innenstadt wollen als gar keine zu bekommen. Wie Joachim Schlage und Andreas Mühlig-Hofmann hat auch er eine simple Lösung, wenn es in manchen Quartieren zu Problemen kommt: „Will Bremen mehr Ärzte, muss die Stadt auch dafür sorgen, dass sie hier an einer Uni ausgebildet werden.“ Außerdem, meint er, sollte sie mal darüber nachdenken, wie sie Anreize schaffen könnte, die über die Umsatzgarantien der Kassenärztlichen Vereinigung hinausgehen. So wie es niedersächsische Gemeinden längst machten.
Von der Idee der Grünen-Politikerin Kirsten Kappert-Gonther, das Landesgremium darüber beraten zu lassen, wie die Engpässe bei Kinderärzten vermieden werden können, hält Hermann wenig: „Das Gremium hat andere Aufgaben.“ Den Vorschlag der Abgeordneten, gezielt zusätzliche Ärzte für Stadtgebiete zu suchen, die besonders viele Neubürger bekommen haben, findet er schlichtweg unpraktikabel: „Wie soll das gehen, wenn man keinen Mediziner zwingen kann, sich ausschließlich dort niederzulassen und nirgendwo anders?“
Hilfe hat auch die Gesundheitsbehörde angekündigt. Als es vor einem Jahr an Hausärzten in Lüssum fehlte, sprach Senatorin Eva Quante-Brandt (SPD) davon, unter Medizinern für den Norden zu werben. Die Kinderärzte Schlage und Mühlig-Hofmann wissen nicht, ob die Behördenchefin das gemacht hat. Sie wissen nur, dass immer noch kein neuer Kollege da ist.