Grohn. Sie haben in zehn Jahren Musikwerkstatt 150 000 Kindern eine Idee von klassischer Musik eingeimpft. Am Sonnabend feiern die Bremer Philharmoniker ihr Jubiläum von 11 bis 17 Uhr im Kulturbahnhof. Kostenlos spielt das Orchester seine kleinen Schulkonzerte. Es gibt das Figurentheater „Mensch Puppe“, die Bühne „Cipolla“ tritt auf, ebenso wie das Jugendsymphonieorchester Bremen-Nord. Und ab zwölf tobt der „Karneval der Tiere“ mit Kindern der Grundschule am Wasser.
Was man mit Zierkieselsteinen aus dem Baumarkt alles machen kann: Musiklehrer Sebastian Kimpel hebt die Arme und klackt die weißen Steine aneinander. Achtzig Augenpaare sind auf ihn gerichtet, es klackt im Chor. Marko Gartelmann von den Bremer Philharmonikern gibt die Melodie auf dem Xylophon dazu. Der Auftritt zur Schulaufführung des Karnevals der Tiere in der Turnhalle der Grundschule am Wasser in Grohn ist praktisch die Generalprobe für das große Fest am Sonnabend.
Das Projekt in der Grohner Grundschule ist ganz typisch für die Musikwerkstatt. Am Freitag haben 250 Grundschüler mit dem Einüben des Stücks begonnen, am Montag und Dienstag haben sie ihre Kostüme geschneidert und den Wandschmuck für die Turnhalle angefertigt: Da hängen jetzt Kolonnen von Seepferdchen, Löwenbilder, Hühner, Schwäne, Elefanten und Dinosaurier. Und jedes Tier im Karneval hat seine Musik. Die Bremer Philharmoniker kommen am Mittwoch dazu und spielen sie vor, bis die Schauspiel-Szenen der Kinder dazu sitzen. Ganz spielerisch lernen die Grundschüler die riesige Harfe, die Geigen und die Blasinstrumente kennen. „Unsere Kinder kennen solche Musik aus ihrem Alltag nicht mehr – eher elektronische Musik und vielleicht noch Instrumente aus ihrem Kulturkreis“, sagt Musiklehrer Kimpel.
Zwei bis drei Stunden haben die Profimusiker des 192 Jahre alten Ensembles am Mittwochmorgen, um die Kinder in ihren Bann zu ziehen. Marko Gartelmann hat eine natürliche Autorität. Aus den Instrumenten sprechen jetzt die Tiere. Schulleiterin Astrid Drüke sieht mit den Kollegen die Freude bei den Musikern, wenn die Kinder Fortschritte machen: „Es geht darum, dass sie ein Gefühl dafür bekommen, wie man etwas darstellen kann, wie unterschiedlich ich ein Tier wahrnehmen kann.“ Drüke hat die Mittel für die Musikwerkstatt im Grohner Win-Forum aufgetrieben – fünf Euro pro Kind beträgt der Eigenanteil einer Einrichtung. „Aber die Philharmoniker tragen auch noch einen Teil. Die Arbeit hier ist ja auch in ihrem Sinne: Woher sollen Orchester heutzutage Nachwuchs bekommen, wenn die Kinder die klassischen Musikinstrumente gar nicht mehr kennenlernen?“
Das Kalkül könnte aus Drükes Sicht lauten: Vielleicht ist ja ein Kind in Mathe keine Leuchte, aber genial auf der Geige. Die Aufführung in der Schulturnhalle hat die Schulleiterin filmen lassen, vielleicht sind ja in zehn Jahren historische Aufnahmen von einem neuen Wunderkind dabei? Marko Gartelmann lacht nur. Er hat jetzt um 14 Uhr in der heißen Halle eher mit gähnenden Kindern als kleinen Genies zu tun. „Müde“, ruft ein Junge mit dichtem schwarzen Haar, um sich dann doch noch auf einen Durchlauf zur Musik der Fossilien einzulassen, erst dann schickt Gartelmann die Kinder zufrieden nach Hause.
Vor zwölf Jahren hat Marko Gartelmann die Idee zur Musikwerkstatt entwickelt: „Heute kann man diese Art der Musikpädagogik sogar studieren, damals gab es noch nichts in der Art. Das war Learning by Doing.“ Der Schlagwerker der Bremer Philharmoniker organisierte Projekttage, die kleinen Schulkonzerten mit unterschiedlichen instrumentalen Schwerpunkten. Mal kommen die Bläser, mal die Streicher und andere. Die Hälfte aller 82 Bremer Philharmoniker tragen die Musikwerkstatt aktiv mit, freut sich Kollege Gartelmann.
„Ich sehe es wie bei einem Tuschkasten: Hat ein Kind nur schwarz und Deckweiß zur Verfügung, dann wird man das an seinen Bildern sehen. Wir wollen Farben in diesen Tuschkasten einbringen, sodass klassische Musik darin einmal zu finden ist wie auch Jazz, Rock, Pop und andere Musik,“ so Gartelmann. Erst mit der Auswahl könne ein Kind aus dem Vollen schöpfen, wenn es sein musikalisches Lebensbild male. Gartelmanns Intendant Christian Kötter-Lixfeld umschreibt den Musikwerkstatt-Ansatz der Philharmoniker noch etwas krasser: „Uns geht es darum, die Kinder und Jugendlichen aus der selbst auferlegten Isolationshaft von iPad, Handy und Computer herauszuholen. Sie sollen auch merken, wie viel Spaß die Kommunikation miteinander über die Musik machen kann.“
Aus der Idee für die Musikwerkstatt ist laut Christian Kötter-Lixfeld schon lange ein gleichberechtigter Baustein in der Arbeit des staatlich geförderten Orchesters geworden. Auf 300 Veranstaltungen kommt die Musikwerkstatt inzwischen pro Jahr, Tausende Schulklassen haben die Übungsräume der Bremer Philharmoniker in den vergangenen zehn Jahren besucht: „Aber das ist dann keine Frontbespielung, wie wir sie vielleicht noch aus unserer eigenen Unterrichtszeit kennen. Es geht auch nicht um die klassischen Jugendkonzerte, wie sie praktisch jedes Orchester im Land anbietet. Das ist immer für die Kinder. Wir wollen aber immer etwas mit den Kindern machen,“ erläutert Kötter-Lixfeld.
Das Konzept ging so gut auf, dass die Philharmoniker wegen der großen Nachfrage ihren ersten Musikwerkstatt-Zweitsitz an der Musikschule in Grohn gegründet haben. Inzwischen ist auch noch ein Percussionstudio in Marßel dazugekommen – mit einem javanesischen Gamelanorchester. Kötter-Lixfeld: „Wir wollen das Repertoire klassischer europäischer Instrumente erweitern. Es ist faszinierend, Hunderte Jahre alte Instrumente anderer Kulturen kennenzulernen und sie neben unsere klassischen Instrumente zu stellen“, sagt Christian Kötter-Lixfeld.
Musik funktioniert so als Mittel einer Integrationsarbeit. Beim Karneval der Tiere sind nicht nur etliche Nationalitäten unter den 250 Kindern, sondern auch 40 behinderte Kinder und Kinder aus dem Kindergarten Haus-Windeck, die bald an die Schule wechseln. Die Aufführung hat die Schule auch darum auf Video aufgenommen, weil nicht alle Eltern in die Turnhalle gepasst hätten, meint Astrid Drüke, die auch ein bisschen Lampenfieber vor dem großen Auftritt im Kuba hat. Dort gibt es morgen übrigens genug Platz.