Wer sich in diesen Tagen die Beiträge auf Twitter zu dem Angriff auf Frank Magnitz durchliest, muss sich angeekelt abwenden. Da wird gemutmaßt ohne Fakten zu kennen, da wird wahlweise relativiert oder dramatisiert, und da kann Mitleid offenbar nur unter Vorbehalt existieren.
Damit bei den eigenen Anhängern ja kein falscher Eindruck entsteht, füge man als Politiker seinem Tweet noch hinzu, man möge die AfD ja nicht und werde sie weiter bekämpfen (Miriam Strunge, Linke). Oder die Täter hätten den Rechten mit dem Einsatz von Gewalt "einen Bärendienst" erwiesen (Alexandra Werwath, Grüne). Oder man greift zu salbungsvollen Worten wie Cem Özdemir (Grüne): "Wer Hass mit Hass bekämpft, lässt am Ende immer den Hass gewinnen. #nazisraus aber mit den Methoden unseres Rechtsstaates!" Kleiner Tipp am Rande: Anteilnahme wirkt aufrichtiger, wenn man das Opfer nicht gleich im nächsten Satz indirekt als Nazi bezeichnet.
Genauso unehrlich wirkt es, wenn AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen tiefste Erschütterung kundtut, aber gleichzeitig nur wenige Stunden nach dem Überfall das Bild des blutüberströmten Bremers auf Twitter verbreitet. Und diesen Übelkeit erregenden Beitrag dann noch ganz oben auf dem eigenen Profil verankert, damit das Foto immer schön sichtbar bleibt. Es wurde tausendfach geteilt.
Was ist passiert?
Ein Mensch wurde schwer verletzt. Nach den Erkenntnissen der Polizei wurde er hinterrücks überfallen. Aber weil dieser Mensch ein hochrangiger AfD-Politiker ist, darf er nicht einfach Mensch sein. Er darf nicht in Ruhe gesund werden. Angesichts der vielen Interviews, die Magnitz inzwischen im Krankenhaus gegeben hat, will er vielleicht auch keine Ruhe. Die AfD Bremen spricht jedoch frühzeitig von dem Einsatz eines Kantholzes, mit dem Magnitz niedergeschlagen wurde, und von Tritten gegen seinen Kopf. Aussagen, die sich durch die Ermittlungen der Polizei bisher nicht belegen lassen.
Dass die AfD aus diesem Fall ihr Kapital schlagen will, kann niemanden ernsthaft überraschen. Schon in anderen Fällen, zum Beispiel einem Messerangriff in Ravensburg, wurden im rechten Spektrum im Netz Videos oder Fotos von Tatorten verbreitet. Jemand, der echtes Mitleid mit den Opfern hat, würde so etwas nicht verbreiten. Wer aufrichtig bedauert, würde seine politischen Ambitionen herunterschlucken.
Am Mittwoch ist es mit der Zurückhaltung ganz vorbei. Als erste Fakten den Nebel aus politischen Ideologien durchdringen und ein (nicht öffentliches) Video den Tathergang zunächst anders darstellt als die AfD, bricht sich auf Twitter der mühsam zurückgehaltene Zynismus Bahn. Dann wird der Hashtag #AfDLieder zum Trend, wo Nutzer Texte von Liedern umschreiben, um sich über die Information mit dem Kantholz lustig zu machen. "Lebt denn das alte Kantholz noch?" oder "Völlig losgelöst / von der Wahrheit / schwebt das Kantholz / völlig bodenlos" lauten dann die gewollt kreativen Tweets. Oder so: "Eins, Zwei, Polizei / Drei, Vier, Kantholz hier / Fünf, Sechs, Lügensprech."
Was, bitteschön, ist daran lustig?
Der Schleier des Anstands ist dünn. Die Debatten in den sozialen Netzwerken sind entmenschlicht. Für Grünen-Chef Robert Habeck, seines Zeichens neuerdings der größte Twitter-Kritiker im Land, war dies unter anderem der Anlass zum Rückzug in die analoge Welt. Er habe gemerkt, dass die Debattenkultur ihn verändere, erklärte er. "Twitter ist, wie kein anderes digitales Medium so aggressiv und in keinem anderen Medium gibt es so viel Hass, Böswilligkeit und Hetze. Offenbar triggert Twitter in mir etwas an: aggressiver, lauter, polemischer und zugespitzter zu sein – und das alles in einer Schnelligkeit, die es schwer macht, dem Nachdenken Raum zu lassen. Offenbar bin ich nicht immun dagegen", schrieb Habeck in seiner Erklärung. Veröffentlicht hat er sie am Montag - vor dem Angriff auf Magnitz. Seine Konsequenz: Bye bye, Twitter.
An Habecks Entscheidung lässt sich vieles kritisieren - doch der aktuelle Fall gibt ihm bei seiner Analyse Recht. Es scheint, als machten die sozialen Medien uns in Fällen wie diesem absolut unsozial. Die Opfer von Verbrechen sind uns fern, frei zur Nutzung für unsere eigenen Zwecke. Wo ist die Menschlichkeit geblieben? Das wäre übrigens auch eine gute Songzeile.