Erwachsene wissen alles. Und sie machen nie etwas falsch. So denkt man zumindest als Kind. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem man durchschaut, dass das nicht stimmt. Dass Erwachsene sehr viel falsch machen – auch, wenn sie es selbst nicht immer merken. Leider setzt diese Erkenntnis oft erst ein, wenn man selbst erwachsen ist. Und die Fehler der anderen schon längst ihre Spuren hinterlassen haben.
In etwa so lässt sich die Quintessenz von "Pinocchio", das am Freitag seine Premiere in der Bremer Shakespeare Company feierte, zusammenfassen. Die Geschichte von Carlo Collodi aus dem Jahr 1881 um den Tischler Geppetto und seine Holzpuppe Pinocchio, deren Nase wächst, wenn sie lügt und die davon träumt, ein braver Junge aus Fleisch und Blut zu werden, erfreut sich aktuell großer Beliebtheit. Gerade erst hat Guillermo del Toros Neuauflage der Geschichte (zu sehen bei Netflix) den Oscar als bester Animationsfilm gewonnen. Und auch Walt Disney hat sich im vergangenen Jahr mit Tom Hanks als Meister Geppetto der Geschichte angenommen. Eine Erzählung darüber, dass Lügen sich selten lohnen und es auf dieser Welt eben dennoch nicht nur gute Menschen gibt, scheint einfach gut in die Zeit zu passen.
Die Shakespeare Company macht aus "Pinocchio" vor allem eine Geschichte über grauenhafte Erziehungsmethoden und so ist es auch gut, dass das Theater dem Stück als Untertitel noch den Hinweis "Nur für Erwachsene" gegeben hat. Kinder hätten an diesem Schauermärchen, das auf den ersten Blick wie ein fantastischer Fieber(alb)traum wirkt, aber eigentlich viel näher an unserer Realität ist, als man sich eingestehen möchte, wahrlich keine Freude. Und auch für Erwachsene bleibt am Ende des Abends trotz bunter, humorvoller Verpackung der bittere Beigeschmack, den dieses Stück hinterlässt.
Der Traum vom braven Jungen
In der Shakespeare Company ist Pinocchio vor allem ein armes Opfer, das es niemandem recht machen kann. Ein fröhliches Kind, das nur deshalb ein braver Junge werden will, weil die Welt um ihn herum ihm eingebläut hat, dass das, was er verkörpert und was aus eigenem Antrieb aus ihm werden könnte, vor allem eines ist: ungenügend. Aber ist es wirklich immer von Vorteil, brav und angepasst durchs Leben zu gehen? Was geht dadurch verloren? Und ist es wirklich immer gut, dass Erwachsene versuchen, aus ihren Kindern etwas vermeintlich Besseres zu formen – koste es, was es wolle?
Pinocchio lernt, dass nur zu spielen keine anerkannte Art und Weise ist, sein Leben zu verbringen; er lernt, dass man anderen nicht vertrauen kann, und dass nur derjenige aus dem Gefängnis frei kommt, der böse ist. Pinocchio macht Erfahrungen mit Gewalt, Manipulation, Drohung. Er bekommt Anweisungen wie "Hör auf zu heulen, du bist doch kein Mädchen", andere Menschen machen ihn für ihr eigenes Unglück verantwortlich, beschimpfen ihn als Trottel oder nutzen ihn gnadenlos aus. Und genau diese Menschen wollen Pinocchio erklären, was richtig und was falsch ist.

Die Grille (Petra-Janina Schultz) versucht Pinocchio (Michael Meyer) im Laufe der Geschichte immer wieder vor Fehlern zu bewahren.
Michael Meyer spielt Pinocchio mit viel jugendlicher Leichtigkeit. Mit Hut, Hosenträgern und hölzerner Maske (Kostüme und Bühne: Heike Neugebauer) – natürlich inklusive langer Nase – versucht er, seinen Platz in der Welt zu finden. Petra-Janina Schultz, Svea Auerbach und Erik Roßbander sind in diversen kleinen Rollen zu sehen. Roßbander spielt unter anderem Geppetto, einen Puppenspieler und einen Kater; Auerbach wird zur Füchsin, zur Marionette, zum faulen Spielkameraden. Schultz taucht unter anderem als blaue Fee und in diversen Tierrollen auf, zum Beispiel als Grille (großartiges Kostüm), die mit warnenden Worten versucht, Pinocchio vor Fehlern zu bewahren und dabei einige ihrer angeblich sieben Leben verliert. Maria Hinze sorgt als Schnecke verkleidet in einem kleinen Häuschen im insgesamt eher kargen Bühnenbild für Musik und Soundeffekte.
Moderne Hits und Konsolen-Gedaddel
Mit Songs wie Jay-Zs "Hard Knock Life" (etwa: stahlhartes Leben) oder Nina Chubas Hit "Wildberry Lillet" und der Tatsache, dass im Land der Spiele, in dem alle faul sein dürfen, den ganzen Tag an der Konsole gezockt wird, hat die Shakespeare Company "Pinocchio" zum Teil in ein hochmodernes Setting gesetzt. Und auch, wenn das Schauspiel der Darsteller durch die Bank weg beeindruckend ist, jede Rolle sitzt und es eine Freude ist, ihnen zuzusehen, schießt das Theaterteam insgesamt (Text: Johanna Schall und Grit van Dyk; Regie: Johanna Schall) hier und da ein wenig übers Ziel hinaus, lässt die Darstellung der Ereignisse etwas zu weit ins Alberne abdriften. Ein kleines bisschen weniger, wäre hier doch mehr gewesen.
Und so ist "Pinocchio" ein Stück mit Höhen und Tiefen, bei dem es durch rasantes und grandioses Schauspiel nie langweilig wird, bei dem man sich einige Szenen aber auch hätte sparen können. Die bittere Moral, mit der der Zuschauer nach rund zweieinhalb Stunden das Theater verlässt: In uns allen steckte mal ein Pinocchio. Ein Pinocchio, der uns auf die eine oder andere Art und Weise von der Welt um uns herum ausgetrieben wurde. Wer ganz viel Glück hatte, hat es vielleicht geschafft, ein Stück von ihm zu bewahren und ist schlau genug, zu erkennen, was für ein Geschenk das ist.