Herr Kötter-Lixfeld, Sie wechseln nach 20 Jahren als Intendant der Bremer Philharmoniker nach Herford, um sich neuen Aufgaben zu stellen. Was war die größte Herausforderung für Sie in Bremen?
Christian Kötter-Lixfeld: Damit wurde ich gleich zu Beginn konfrontiert. Es galt, aus nahezu nichts etwas zu machen. Das Orchester wurde 2002 in eine GmbH überführt, aber das war nur eine Hülle. Es existierten keine lebendigen Strukturen.
Was meinen Sie damit?
Das Orchester spielte damals nur die Philharmonischen Konzerte und als Opernorchester im Theater Bremen. Es gab kein Selbstverständnis, was es heißt, ein Bremer Philharmoniker oder eine Bremer Philharmonikerin zu sein. Das mussten wir erst einmal gemeinsam entdecken, auch anhand dieser langen und wertvollen Geschichte des Ensembles. Dazu kam der inhaltliche und personelle Aufbau einer Büro- und Förderstruktur.
Das klingt so, als hätten Sie alles auf Anfang stellen müssen. Wie schwierig war das?
Ich habe beruflich noch nie eine Situation vorgefunden, wo alles schon irgendwie fertig war. Es ging immer ums Anpacken und Gestalten. Es gab sozusagen immer einen Rucksack, aber unklar war: Was ist drin in dem Rucksack, womit marschieren wir los? So war es hier auch.
Gab es eine Blaupause für das, was Sie vorhatten, andere Orchester beispielsweise, die sich schon neu orientiert hatten?
Nein, man muss sich da auch auf seine eigene Nase verlassen. Mir war es von Anfang an wichtig, die Musikerinnen und Musiker einzubeziehen. Wir haben dann gemeinsam sehr schnell die Weiche gestellt für die Musikvermittlung. Das war damals nicht selbstverständlich, dass ein Orchester Musikvermittlung als absolut gleichwertig zu seinen anderen Aufgaben definiert hat und nicht als nettes kleines Anhängsel.
Das war der zündende Funke für weitere Neuerungen?
Ja, parallel dazu wurde die Marke Bremer Philharmoniker entwickelt. Es gab ja nichts, kein Design, keine Corporate Identity, keinen Kundenservice, keine Kooperationen. Mit mir gemeinsam startete damals der neue Generalmusikdirektor Lawrence Renes – wir mussten schnell etwas erzählen, von dem sich erst mit der Zeit herausstellen würde, was es genau ist.
Man könnte ketzerisch einwenden, nun ja, das ist ein Orchester, da wird klassische Musik gespielt in der Oper und in der Glocke. Das muss doch als Marke reichen. Warum ist da so ein Tüdelkram drumherum notwendig?
Für mich war klar: Die Philharmonischen Konzerte und das Engagement für die Oper, das sind Selbstverständlichkeiten. Aber das Orchester war in der Stadt nicht richtig angekommen, auf den Bühnen vielleicht, aber ansonsten nicht. Das Selbstverständnis, für die Bremer da zu sein, überall und immer wieder, quasi zum Stadtbild dazuzugehören, das musste erst aufgebaut werden, um den Bekanntheitsgrad zu steigern.
Das hieß und heißt auch: Es gibt mehr Aufgaben für die Musikerinnen und Musiker, durch diverse Konzertreihen, Stadtteilspaziergänge, Probenbesuche, Musikvermittlung, und anderes. Gab's da auch mal Gegrummel im Ensemble, weil: Die Arbeitsbelastung ist dadurch gewachsen?
Das gab's bestimmt, auch, weil ich das alles in so einem hohen Tempo umsetzen musste. Es gab keinen Übergang oder eine Warmlaufphase, ich wurde am 1. August 2002 ins kalte Wasser geschubst. Aber es gab in den Orchestergremien viele Kollegen, die das genauso sahen wie ich und die vor allem unter dem Stillstand, der davor war, gelitten hatten. Das Orchester stand 2002 wirklich am Abgrund. Es gab Diskussionen über Herabstufung, über Verkleinerung, darüber, nur noch ein Opernorchester zu sein. Von daher gab es eine Grundüberzeugung bei den Philharmonikern, die lautete: Wir können eigentlich nur nach vorne schauen.
Wenn Sie jetzt zurückschauen, gibt es auch etwas, von dem Sie sagen: Das ist ja viel leichter gelaufen, als ich zunächst gedacht habe?
Am Anfang gab es keine Form von Verlässlichkeit und das bei diesem ungeheuren Vorlauf, mit dem wir planen müssen. Durch das Engagement gerade von Kulturstaatsrätin Carmen Emigholz haben wir dann mehrjährige Kontrakte erhalten. Das heißt: Es gibt eine bestimmte Gesamtsumme, die uns gestalterische Freiheit ermöglicht. Das hat auch im Orchester für eine unglaubliche Erleichterung gesorgt, weil klar war, wir können diesen neuen Weg jetzt etwas risikoärmer beschreiten.
Wie war Ihre Rolle im Zusammenspiel mit dem jeweiligen Generalmusikdirektor? Gab es eine lange Leine oder eine kurze?
In den ersten Jahren mit Lawrence Renes war es nicht einfach. Ich denke wenig in formalen Zuständigkeiten und bin eher teamorientiert, auch was die Gestaltung der Programme angeht. Diese Auffassung hat er nicht geteilt. Daher haben wir uns relativ schnell getrennt – gerade auch, weil die künstlerische Zusammenarbeit mit dem Orchester nicht funktionierte. Mit Markus Poschner und auch mit Marko Letonja stimme ich völlig überein. Die beiden haben im Übrigen auch die künstlerische Reputation des Orchesters erheblich gesteigert. Dieses gemeinsame Verständnis von Führung ist nicht selbstverständlich und war für mich ein großes Glück. Wir sehen in der langen Musikgeschichte die oft schweren, jahrhundertealten Samtvorhänge, die es von uns für das Publikum zu entstauben gilt.
Das heißt?
Wir wollen mit unseren Konzerten Geschichten für heute erzählen, über jegliche gesellschaftliche Schichten hinweg. Da kommt es immer darauf an, dass man authentisch rüberkommt, dass die Menschen einem das abnehmen, was man vermitteln will. Das war bei Markus Poschner und ist jetzt bei Marko Letonja absolut der Fall. Das kann dann mal ein ganz klassisches Programm sein mit Brahms und Mozart oder, wie gerade beim ersten Philharmonischen Konzert, etwas experimenteller daher kommen und auch politischer. Wir können nicht ausblenden, was uns umgibt, sei es nun Krieg oder Klimakatastrophe. Wichtig ist, dass das Publikum da mitgeht, weil es uns vertraut. Egal wo, ob nun in der Glocke, in der Straßenbahn, im Übersee-Museum oder beim Stadtteilspaziergang durch Pusdorf.
Trotzdem ist der Altersschnitt des Publikums nach wie vor sehr hoch – was kann man Ihrer Meinung nach noch tun, um das zu ändern? Auch in Herford werden Sie damit konfrontiert sein.
Das hat immer noch etwas mit den Bildern zu tun, die sehr lange Zeit für klassische Musik standen und immer noch stehen. Die haben sich eingebrannt. Der Dirigent im Frack, Operndiven mit großen Gesten und in noch größeren Roben – diese Ehrfurcht, die da sofort mitschwingt. Dabei muss das gar nicht sein, von daher ist uns das Tabakquartier mit seiner Frische auch so wichtig. Da geht es nicht um Walhalla, sondern wirklich um Musik. Ich gehe ins Konzert, mache die Augen zu, dann übernimmt eine andere Welt. Ehe sich eine derartige Herangehensweise durchsetzt, wird es aber noch dauern. Das klassische Konzert wird in Deutschland noch lange so aussehen wie jetzt. Aber es wird immer mehr Bereiche geben, die hinzukommen. Wir müssen mutig bleiben.
Was wünschen Sie Ihrem Nachfolger?
Ich kann ihm nur das wünschen, was ich in Bremen erfahren durfte: zu entdecken, was möglich ist. Da braucht man einen sehr guten Kontakt in die Stadt hinein, man muss zuhören wollen. Die Bremer und Bremerinnen geben einem dann sehr viel, wenn man das macht. Das hat mir immer geholfen, nicht übers Ziel hinauszuschießen und meine eigene Handschrift zu entwickeln.
Und was werden Sie ganz persönlich an Bremen vermissen?
Ich habe gerade in den vergangenen Tagen erlebt, dass ich viele Freundinnen und Freunde habe hier, die mich begleitet haben und auf die ich mich verlassen konnte. Mir ist diese Stadt schon sehr ans Herz gewachsen.
Das Gespräch führte Iris Hetscher.