Und noch eine Premiere im neuen Domizil, das die Bremer Philharmoniker am zweiten Septemberwochenende mit einem Tag der Offenen Tür Am Tabakquartier 10 eingeweiht haben. Generalmusikdirektor Marko Letonja probt für das Saisonauftakt-Konzert der Philharmoniker in voller Orchesterstärke ein Werk, das höchste Konzentration erfordert: Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“. Dieses „Frühlingsopfer“ ging 1913 bei seiner Uraufführung im Theatre des Champs-Elysées in Paris in Tumulten des Publikums unter, zu außergewöhnlich die Musik und auch die Choreografie des Ballett-Stars Vaslav Nijinsky.
Etwas von dieser revolutionären Sprengkraft besitzt Strawinskys „Sacre“ noch heute. Das wird deutlich, wenn Blechbläser und Schlagwerker in voller Lautstärke loslegen: Es raunt und donnert bedrohlich. „Allegro vivace, nicht prestissimo und etwas mehr crescendo“, Generalmusikdirektor (GMD) Marko Letonja gibt vom Pult aus Anweisungen und feilt akribisch an jeder Nuance. Lebendig und nicht zu schnell soll es klingen und dabei nach und nach lauter werden, so in etwa lautet die Übersetzung aus dem Italienischen.
Zum ersten Mal könne nun durchgehend in einem Konzertsaal geprobt werden, der ein ähnliches Klangbild wie „Die Glocke“ habe, sagt Letonja. Das Konzerthaus steht lediglich für die knappe Endproben-Phase zur Verfügung. Eine architektonische und akustische Meisterleistung, dass aus einer Betonhalle ein veritabler Konzertsaal geworden sei, befindet der GMD. Zum ersten Mal sei das nötige Klangvolumen da. Das gesamte Gebäude sei in Schwingung. Endlich könne nun die durchgehende Arbeit am Orchester-Klang beginnen, sagt Letonja.
107 Akustik-Segel sorgen für den richtigen Sound. Hinter den mehr als 100 hellen Holz-paneelen, die an den weiß getünchten Wänden befestigt sind, verbergen sich weitere Akustik-Elemente. Dazu kommt der Holzboden. Der Konzertsaal bietet 373 hellgraue Sitze. Denn selbstverständlich gibt das Orchester auch und gerade Konzerte in Woltmershausen.
Doch, wie geht das eigentlich, aus der Riesenbaustelle einer alten Tabakfabrik einen Orchestersaal zu formen und das in der Rekordzeit von drei Jahren? „Wir haben Joachim Linnemann, aber auch der Stadt, viel zu verdanken“, sagt der GMD. Dementsprechend groß sei die Trauer, auch bei den Philharmonikern, um den langjährigen Geschäftsführer des Immobilienunternehmens Justus Grosse. Die ehemalige Tabakfabrik in Woltmershausen mit neuem Leben zu erfüllen, das sei Joachim Linnemanns Vision gewesen und die habe sich erfüllt. „Und wir sind glücklich, nun Teil dieser Vision zu sein“, sagt Letonja.
Für die Philharmonikerinnen und Philharmoniker ist die Halle 1, Am Tabakquartier 10, ihr neues Zuhause. Das ist während der Probenpause in der warm beleuchteten, gemütlich eingerichteten Lounge zu spüren. Die Thekendienste übernehmen wechselseitig die Orchestermitglieder, sie haben auch die Lounge-Idee entwickelt. Eifrig wird das eben Geprobte diskutiert. Viele Orchestermitglieder radeln wie Generalmusikdirektor Marko Letonja über die Weser zu den Proben ins Tabakquartier – bei Wind und Wetter. Der insgesamt 280 Quadratmeter große Lounge- und Foyer-Bereich steht Publikum und Philharmonikern gleichermaßen zur Verfügung. Die insgesamt drei Etagen der Halle 1 bieten 3500 Quadratmeter Platz.
Die Übergänge seien fließend, sagt Cellistin Karola von Borries. Zumal die Musikwerkstatt, die sich auf der gleichen Ebene wie das Foyer befindet, für Groß und Klein immer offen stehe. Im besten Sinne volksnah. Die Musikwerkstatt ist mit verschiedenen Computer-Bildschirmen digitalisiert. Hinzu kommen Mini-Mischpult und Tonstudio. An den Wänden sind fein säuberlich verschiedene Instrumente nebeneinander aufgereiht. Sie laden zum Ausprobieren ein. Und zum Performen gibt es eine kleine Bühne, auf der Videoclips gedreht werden und anschließend, sofern die Erlaubnis der Eltern vorliegt, in die sozialen Medien gestellt werden können.
Christian Kötter-Lixfeld, nach 20 Jahren scheidender Intendant der Bremer Philharmoniker, hat beobachtet, wie sich die Kinder ganz selbstverständlich an die Displays setzen und mit den Touch-Pads loslegen. Motto: „Misch die Bremer Philharmoniker ab“, so steht es an einer der Stationen. Auch einzelne Instrumente lassen sich aus dem Orchesterklang herausfiltern. Außerdem haben Marko Gartelmann und David Gutfleisch, die als Doppelspitze die Musikwerkstatt leiten, einen Klang-Parcours entwickelt, auf dem sich erforschen lässt, welche Klänge sich mit Alltagsgegenständen wie Kanister, Schneebesen oder Blumentöpfen erzeugen lassen oder wie unterschiedlich einzelne Hölzer klingen.
Einer der dienstältesten Musiker ist Orchestervorstand Gregor Daul. Der Oboist arbeitet seit 36 Jahren bei den Philharmonikern. „Was haben wir nicht schon alles erlebt, anfangs haben wir auf dem Orchesterboden des Packhaus-Theaters geprobt, später unter anderem in Hemelingen und dann in der Plantage in Findorff“, erzählt er. Das Findorffer Domizil sei zwar gut gewesen. „Aber mit dem hier ist das kein Vergleich“, sagt er. „Es ist großartig, hier in Woltmershausen Teil einer neuen Stadtentwicklung zu sein.“ Endlich angekommen im neuen Zuhause, meinen Daul und von Borries. Auch, wenn alles noch in Entwicklung ist.
An allen Ecken und Enden sind Relikte des Industrie-Charmes zu entdecken. Im Foyer steht noch eine alte Tabakwaage. In einem der Stimmzimmer ist eine alte Hebebühne ganz bewusst erhalten worden. Dort wurden früher die Tabakfässer hereingerollt. In einem anderen Raum hängt ein alter Feuerwehrschlauch an der Wand. „Es gibt in den Übungs- und Stimmzimmern viel zu entdecken“, sagt Karola von Borries. Sie war eine der Musikerinnen, die am Eröffnungswochenende durch das neue Orchester-Quartier führte. Die Menschen, darunter viele aus Woltmershausen, seien nur so geströmt, erzählt sie. Darunter zwei ältere Damen, die total begeistert gewesen wären. „Sie sind als Kinder mit der Tabakfabrik aufgewachsen. Dass sie jetzt mit so viel neuem Leben erfüllt wird, das ist für sie eine große Sache.“
Genauso wie für den Grundschüler, der mit seiner Großmutter ins neue Philharmoniker-Domizil kam. „Es sprudelte nur so aus ihm heraus“, schildert von Borries. Wahnsinn, dass er bei dem musikalischen Stadtteil-Spaziergang „Pusdorf Pictures“ auf der Bühne stehen könne, habe er gesagt. Das Fazit Karola von Borries’: In den Stadtteil hinein zu wirken, das sei grandios gelungen. Fehlt nur noch eine direkte Busanbindung, besonders wichtig für die dunkle Jahreszeit.