Während die Körper der anderen Primaballerinas weibliche Formen bekommen, tut sich bei Lara nichts. „Dein Körper wird sich verändern“, verspricht die Ärztin. „Wissen Sie auch, wann es losgeht, also genau?“, fragt Lara immer wieder, betastet dabei die flache Brust. Lara, 17 Jahre alt, wacht jeden Morgen im falschen Körper auf. Innerlich ist sie ein Mädchen, äußerlich aber weist die Tänzerin noch die Geschlechtsmerkmale ihrer einstigen Identität auf. Sie ist transgender: Geboren wurde Lara als Vincent.
Im Film „Girl“ taucht der Zuschauer ein in Laras beschwerlichen Weg zum wahren Ich. Was von Vincent trotz Hormontherapie noch übrig ist, will Lara mit einer geschlechtsangleichenden Operation auch äußerlich abstreifen. Die Kamera folgt Lara stets dabei, fokussiert ihr zartes Gesicht, den drahtigen Körper, oft nackt, schwenkt nicht weg. Man muss hinschauen, ist nah dran. Gleichzeitig bleibt der Film meist an der Oberfläche haften: Zu sehr nimmt er Laras äußerliche Entwicklung in den Blick.
Welche innere Metamorphose die 17-Jährige durchlebt, wie groß die seelische Belastung sein muss, davon bekommt der Zuschauer wenig mit – nicht zuletzt, weil Lara zunehmend schweigt. Lara isst nicht mehr, Lara schläft kaum noch, aber Lara tanzt. Ballett wird Laras Sprache, in der sie sich ausdrücken kann, ohne ein Wort zu sagen. Doch das tägliche, harte Training auf der renommiertesten Ballettschule Belgiens verlangt dem geschwächten Körper alles ab.
Die Rolle der Lara verkörpert Profitänzer und Schauspiel-Laie Victor Polster Oscar-verdächtig. Anrührend spielt aber auch Arieh Worthalter den alleinerziehenden Vater Mathias. Er will verstehen, sagt er immer wieder, verstehen, wie sich Lara fühlt. Den Wunsch der Tochter, den männlichen Körper auch äußerlich in den eines Mädchens zu wandeln, stellt er nicht infrage. Bei jedem Arztbesuch ist er dabei, hält Laras Hand, wenn sich das nächste Hormonpräparat den Weg durch eine Nadel in ihr Inneres bahnt.
Inspiriert von realer Tänzerin
Inspiriert zu „Girl“ wurde der 27 Jahre alte Regisseur Lucas Dhont von Nora Monsecour, einer zeitgenössischen Tänzerin aus Belgien, heute 22 Jahre alt. Beim 31. Europäischen Filmpreis ist der Debütfilm des flämischen Nachwuchsregisseurs kürzlich als „europäische Entdeckung“ ausgezeichnet worden. Beim Filmfestival in Cannes hatte „Girl“ die „Goldene Kamera“ als bester Debütfilm erhalten.
Der Film „Girl“ kann helfen, zu sensibilisieren und Vorbehalte abzubauen: Als Zuschauer fühlt man am eigenen Leib, was es Menschen abverlangen muss, offen über ihre Transsexualität zu sprechen – vor allem aber, im falschen Körper geboren zu werden und dadurch in den Augen anderer nicht der Norm zu entsprechen.