Hans Castorp wollte nicht lange bleiben, drei Wochen nur, um seinem Vetter während der Lungenkur Gesellschaft zu leisten. Doch dann, ja dann . . . – mit der Zeit geht die Zeit ins Land, ein paar Monate, das erste Jahr. Castorp, dieses Sorgenkind des Lebens, wie ihn einer seiner Mentoren bezeichnet, wird selbst zum Patienten und lässt sich das gerne gefallen. Er geht auf in der feinen Gesellschaft von Menschen, die mal mehr, mal weniger krank sind und sich durchaus vergnügt in ihr Schicksal begeben, es geradezu auskosten oder davon verschlungen werden, je nachdem.
Der junge Mann verliebt sich, auch das, er schwelgt in Gefühlen. Die Ahnung von Glück und Begierde, sehr subtil. Und dann wird es Winter, dann Frühling, Sommer und Herbst, die Übergänge fließend, manchmal kaum wahrnehmbar. Noch ein Jahr und noch eines, und am Ende, man glaubt es kaum, sind es sieben. Aus drei Wochen sind sieben Jahre geworden.
Aus der Zeit gefallen und konfus
Der immer noch leidlich junge Mann trägt längst keine Uhr mehr. Die Zeit, in Stunden und Minuten bemessen, ist ihm abhandengekommen. Castorp ergeht sich in allerlei Abschweifungen, hat hoch oben vollends den Kontakt zum "Flachlande" verloren. Zuletzt macht ihn das konfus, die alte Zufriedenheit – dahin. Er ist gefallen, aus der Zeit gefallen. Bis der Krieg ihn mit Gewalt zurückzerrt. Aus den Sphären des Geistes, der Selbstvergessenheit und des Genusses in den Schlamm der Schlacht. Neu geerdet sozusagen. Dort verliert sich seine Spur.
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Eine bizarre, amüsante, skurrile Geschichte, die Thomas Mann mit seinem "Zauberberg" aufgeschrieben hat. Sie mäandert durch unzählige Themen und Kapitel, ist teils Bildungshuberei, teil wahrhaftig gelehrig, schlägt leichte und schwere Töne an. Fulminate Literatur im Ganzen. Erhellend, unterhaltsam, zuweilen ermüdend. Erschienen ist das Buch 1924. Vor hundert Jahren.
Die Gegenwart dehnt sich nicht aus, bleibt auf demselben Fleck – das mag in der märchenhaften Abgeschiedenheit und Weltabgewandtheit vom "Zauberberg" so sein, aber doch nicht auf dem harten Pflaster des Alltags. Im "Flachlande" also, wozu getrost auch ein Ort namens Bremen gerechnet werden darf. Dort kommt es zwar vor, und gar nicht mal selten, dass die Uhr am Dom eine falsche Zeit anzeigt. Sie bleibt stehen, will sich nicht länger treiben lassen, macht eine Pause. Die Uhr schert aus, könnte man sagen, lässt die Welt links liegen mit ihrer ewigen Unruhe. Düpiert auch den einzelnen Menschen, der auf dem Weg zur Arbeit für gewöhnlich zum Kirchturm hinaufblickt – schaff ich's noch bis zur Morgenkonferenz? – und feststellen muss, dass in der Stadt etwas aus dem Takt geraten ist.
Ein schönes Schauspiel, wenn die Domuhr neu marschiert. Dann rasen die Zeiger übers Zifferblatt, eilen von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde, bis endlich der richtige Stand erreicht ist. Bremens Maß und Mitte wieder intakt. Alles paletti, alles im Lot.
Von der eingefangenen Zeit
Aber was heißt das in diesem Zusammenhang eigentlich: richtig und falsch? Irgendwo ist es immer nach sechs am Abend, wird regelmäßig einem Mann beschieden, der konsequent und seit Jahrzehnten vor sechs am Abend keinen Alkohol trinkt. Und stimmt, die Leute haben recht. Bei so vielen Zeitzonen auf der Welt darf das Bier rund um die Uhr fließen. Der Prinzipienreiter könnte die Zügel fahrenlassen. Tut er aber nicht.
Anders betrachtet muss aber durchaus von richtig und falsch gesprochen werden. Die Zeit hat zwar ihre Freiheiten, zum Beispiel und vor allem im subjektiven Empfinden. Sie kann launisch sein, Kapriolen schlagen. Doch was hilft ihr das, wenn sie eingefangen wird? Von einem Häscher, der kein Pardon kennt und keinen Spaß. Vom Staat. Er nämlich legt fest, wie spät es ist, macht sich die Zeit untertan und übt Willkür an ihr: Seit Einführung der Sommerzeit vor bald 45 Jahren gibt es zweimal im Jahr den Stundentanz – ein Schritt vor, ein Schritt zurück. "Die gesetzliche Zeit ist die mitteleuropäische Zeit", steht im Gesetzbuch, und weiter: "Diese ist bestimmt durch die koordinierte Weltzeit unter Hinzufügung einer Stunde." Im Sommer kommen zwei Stunden obendrauf. Basta und keine Widerrede, denn so verfügt es das Einheiten- und Zeitgesetz, kurz: EinhZeitG.
Ein eng geschnürtes Korsett – bei einem Phänomen, das doch eigentlich flüchtig ist und wandelbar. Manchmal dehnt sich die Zeit, dann wieder schrumpft sie. Eine lange Weile, ein kurzer Moment, je nachdem und das bei der exakt gleichen Zahl von Minuten und Stunden, die vergehen. Die Morgenkonferenz in der Redaktion kann ein berauschender Ritt durch die Themen sein, sprühend und effizient. Oder sie ist so lahm wie der sprichwörtliche Gaul. Beides schafft ein eigenes Erlebnis, beides tangiert das Zeitempfinden.
Manchmal, das gibt es auch, geht die Zeit verloren. Marcel Proust hat einen großen Roman darüber geschrieben: "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit." Ein Werk, das dem Menschen seine vertanen Chancen vorhält und von der Traurigkeit spricht, die daraus entsteht. Proust vermischt Gegenwart und Vergangenheit; die berühmte "Madeleine" in seinem Buch, das in Tee getunkte Gebäck als Vehikel zurück in die Kindheit. Die Zeit festhalten, so die Botschaft, gelingt nur durch Erinnerung. Im Idealfall wird dieses Erinnern in eine feste Form gegossen, in den besagten Roman zum Beispiel, dessen letzter Band nicht von ungefähr "Die wiedergefundene Zeit" heißt. Proust schreibt – und bleibt gewissermaßen.
Zeit, die verloren geht, Zeit, die verschwendet wird – das sind Kategorien, die gelten, wenn nach ökonomischen Prinzipien verfahren wird: den Tag durchtakten, die Woche, den Monat, das Jahr. Langeweile und Müßiggang sind nach diesem Maßstab des Teufels, gelten als unproduktiv.
Castorp verwendet die Zeit nicht, er geht durch sie hindurch
Das Statistische Bundesamt, kein Scherz, stellt alle zehn Jahre eine "Zeitverwendungserhebung" an. Die Behörde will wissen, was die Menschen in Deutschland alles so tun, welchen Beschäftigungen sie nachgehen. In der vergangenen Woche wurden die jüngsten Ergebnisse vorgestellt. Würde das Amt Hans Castorp fragen, müsste er passen, denn bei ihm verhält es sich so: Angesprochen auf einen besonderen Abend, antwortet er, dass es „ein aus aller Ordnung und beinahe aus dem Kalender fallender Abend war“. Castorp verwendet die Zeit nicht, er geht durch sie hindurch. Das unter anderem ist das Magische an dem Roman von Thomas Mann, dessen Lektüre auch nach 100 Jahren noch lohnt.
Es gibt einen Verein in Bremen, den Verein zur Förderung des Müßiggangs. Sein Name ist "Otium". Ein zugleich ernsthaftes und spielerisches Anliegen, der Zeit als starre Stunde und strenges Regiment ein Schnippchen zu schlagen. "Otium ist Lachen über die Annahme des Selbstverständlichen, ist zeitloses Geschehen, Befremdung über das Nahe, ist Entdeckung des Zufälligen, Ungeordneten, Ungebundenen, des Konstruktiven der Gewissheiten, ist sowohl aktive Passion, nämlich selbstvergessenes Tätigsein, Überfluss und Luxus, als auch passive Aktion, nämlich Aufnahme, Verdauung und Genesung", schreiben die Praktikantinnen und Praktikanten des Müßiggangs, wie sie sich selbst nennen. Otium, kurzum, "bewegt sich zur anderen Seite, zum Gelächter, zum Traum".
Zeit kann, so betrachtet, gar nicht verschwendet werden. Ob auf dem "Zauberberg" oder sonst wo. Manchmal vielleicht während der Morgenkonferenz, aber das ist ein anderes Thema. Wie schrieb Bertolt Brecht, Meister der Verse und Botschaften? "Geh ich zeitig in die Leere, komm ich aus der Leere voll. Wenn ich mit dem Nichts verkehre, weiß ich wieder, was ich soll."