Leben wir in einer Wohlstandsgesellschaft oder geht der Laden längst den Bach runter? Das Wirtschaftswachstum – zu niedrig. Die Aussichten – trüb. Die Stimmung – im Eimer. Es mag viele Gründe dafür geben, dass den Deutschen ihre Lebensfreude abhanden gekommen ist. Auch das Gefühl, dass es ihnen mal besser ging, setzt die Volksseele unter Druck. Wohlstand, das war einmal. Aber ist das wirklich so?
Wer über Wohlstand spricht, hat in aller Regel Materielles im Sinn: "Mein Haus, mein Auto, mein Boot", wahlweise auch mit Pferd, Fernreise oder teurem Handy kombinierbar, sind gängige Beispiele für die erstrebenswerten Ziele innerhalb der Wohlstandsgesellschaft. Aber auch, wer nur in der Lage ist, zwei Mittelklassewagen zu unterhalten, mehrfach jährlich zu verreisen oder den kaputten Fernseher oder Waschmaschine einfach so zu ersetzen, gehört nach gängigen Maßstäben zu jenen, die im Wohlstand leben.
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Dabei ist man sich unter Ökonomen längst weitgehend einig, dass dies eine verkürzte Sicht der Dinge ist. Wohlstand lässt sich nicht nur in Euro oder Dollar messen – vielmehr ist er das Produkt einer Reihe von Faktoren, die subjektiv betrachtet unterschiedlich gewichtet werden können. In der gesamtgesellschaftlichen Betrachtung ist das aber noch nicht angekommen, weil viele Faktoren schlichtweg nicht gut messbar sind.
Die Stimmung ist gedrückt
Will man den Wohlstand von Staaten bemessen, bedient man sich in aller Regel des Bruttoinlandsprodukts, kurz: BIP. Es gibt – grob ausgedrückt – den Wert aller Waren und Dienstleistungen an, die innerhalb eines Jahres in einem Land hergestellt werden, und zeigt somit die wirtschaftliche Leistung eines Landes an. Das deutsche Pro-Kopf-BIP ist zuletzt geringfügig gesunken, auch die Pandemie und die Finanzkrise 2009 haben ordentlich reingehauen – ansonsten war das BIP in den vergangenen 20 Jahren zumeist ordentlich im Plus.
Dies und auch der Umstand, dass die Arbeitlosenquote seit der Wiedervereinigung kaum einmal so niedrig war wie derzeit, tragen allerdings nicht zum gesellschaftlichen Gefühl bei, im Wohlstand zu leben. Gründe gibt es allerlei: Kriege und Energiekrise schaffen Verunsicherung, und die Inflation ist seit Jahren höher, als es Europäer gewohnt sind. Das Geld ist weniger wert, was die Rufe nach Lohnerhöhungen befeuert, weil Arbeitnehmerinnen und -nehmer ihre Kaufkraft erhalten wollen. Nimmt man Wirtschaftswachstum, BIP und Inflation zum Maßstab, kann von Wohlstand derzeit keine Rede sein. Und das drückt die Stimmung.
Dabei raten Experten schon lange dazu, den Wohlstandsbegriff zu erweitern. Neben der materiellen Dimension sollte man auch andere Dinge in den Blick nehmen, die das Leben bereichern und ein Wohlgefühl – soll heißen: ein Wohlstandsgefühl – erzeugen. In den vergangenen Jahren sind beispielsweise die in Kiel beziehungsweise Berlin forschenden Ökonomen Katharina Lima de Miranda und Dennis Snower mit ihren Arbeiten bekannt geworden, die den Wohlstandsbegriff differenzierter betrachten. Die Wissenschaftler stellen neben das Wirtschaftswachstum auch Begriffe wie Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit und das Maß der Chancen, die Menschen in einem Land haben, um ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Jüngere Generation hat anderen Blickwinkel
Der materielle Aspekt, so Lima de Miranda in einem Interview mit der "Taz", sei in unserem Denken sehr verwurzelt und habe somit einen großen Einfluss auf Entscheidungen in der Politik und in Unternehmen. Vor allem bei der jüngeren Generation setze sich aber auch eine Bereitschaft durch, dieser Konsumfalle nicht zu folgen, und beispielsweise auch soziale Aspekte ins Auge zu fassen: "Fühlen wir uns eingebettet in die Gesellschaft, haben wir Freunde, Familie, Bekannte, auf die wir zählen können? Haben wir eine Aufgabe und Chancen innerhalb der Gesellschaft?" Lima de Miranda stellt außerdem den Umweltaspekt heraus: "Wie ist die Luft an dem Ort, an dem wir leben? Haben wir Grün um uns herum?" Seien die Bedingungen günstig, bringe das ein Gefühl von einem guten Leben. Man könnte auch sagen: von Wohlstand.
Tatsächlich zeigt sich schon seit einiger Zeit, dass die nachrückende Generation andere Bedürfnisse in den Vordergrund stellt als ihre Eltern und Großeltern. Viele haben sich ein ressourcenschonendes und damit zeitgemäßes Konsumverhalten und eine gute Work-Life-Balance verordnet. Das mag die Vorfahren wundern, vor allem jene, die sich noch an Wirtschaftswunderzeiten erinnern oder gar selbst dazu beigetragen haben. Doch der neue Trend zieht Kreise: Der Ruf nach mehr Leben und weniger Arbeit in der für alle knapp bemessenen Zeit ist unüberhörbar.
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Die Möglichkeiten sind allerdings begrenzt, vor allem, wenn das Wohlstandsniveau nicht weiter sinken soll, wie Christian Reiermann kürzlich unter Bezug auf neue Arbeitszeitmodelle für den "Spiegel" schrieb. Er hält es für eine Illusion, dass es ökonomisch möglich sein soll, einen Tag weniger zu arbeiten und trotzdem das Gleiche zu verdienen. Das entspräche einer Gehaltserhöhung von 25 Prozent. "Wer Freizeit bevorzugt, hat weniger Geld. Das ist das Ergebnis der freien Entscheidungen des Arbeitnehmers oder seiner Gewerkschaft. Er muss dann aber die Konsequenzen akzeptieren. Niemand sollte sich hinterher darüber beschweren, dass das Gehalt nicht reicht für die teure Wohnung in der Stadt oder das Eigenheim im Vorort." Oder für die viele Freizeit, die auch irgendwie bezahlt werden muss.
Die Bertelsmann-Stiftung betont überdies, dass nicht nur ein Zusammenhang zwischen Wirtschaftsleistung und materiellem Wohlstand besteht, sondern auch weichere Faktoren davon beeinflusst werden: "Ein hohes BIP ist gleichbedeutend mit einem geringen Niveau der absoluten Armut, höheren Beschäftigungschancen und höheren Ausgaben für Infrastruktureinrichtungen. Dadurch beeinflusst materieller Wohlstand auch die immateriellen Lebensbedingungen, etwa in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Sicherheit und Teilhabe."
Die Stiftung weist in ihrer Veröffentlichung aber auch darauf hin, dass es Grenzen der Zunahme des materiellen Wohlstands gebe. Denn materieller Wohlstand habe oftmals Kosten wie die Verschmutzung der Umwelt oder – unübersehbar – den Klimawandel zur Folge. Wohlstandswachstum sei oftmals mit wachsender Ungleichheit verbunden und habe soziale Instabilitäten zur Folge.
Individuell unterschiedliche Rezepte
So wird es darauf ankommen, das Streben nach Wohlstand nicht zu überdehnen und eine gute Mischung zu finden, die je nach individuellem Standpunkt unterschiedliche Zutaten haben dürfte, nicht nur materielle. Denn Wohlstand kann sich ganz unterschiedlich anfühlen. Für die Kriegsgeneration war es Ausdruck eines besseren Lebens, die Steckrübensuppe durch ein tägliches Stück Fleisch auf dem Teller zu ersetzen. Wer das mal so gelernt hat, wird das mittlerweile sinnvolle Gebot des Fleischverzichts als Wohlstandsabbau betrachten.
Die Babyboomer wiederum könnten sich wundern, dass die Gesellschaft nicht mehr das gewohnte Maß an Dienstleistungen vorhält. Anders, als noch vor ein paar Jahren, muss man heute monatelang warten, bis der Handwerker endlich Zeit hat. Und haben Sie zuletzt mal versucht, einen Arzttermin zu bekommen? Auch Fachkräftemangel und damit einhergehende Leistungseinschränkungen können als ein Verlust von Wohlstand betrachtet werden. Und die Aussicht heutiger Teenager, den Lebenswandel ihrer Eltern ausbaden zu müssen, indem sie die Folgen des Klimawandels ertragen, wird kaum ein Wohlstandsgefühl hervorrufen.
Die aktuellen Wirtschaftsdaten deuten nicht auf ein Mehr an Wohlstand in naher Zukunft hin. Pessimismus ist aber unangemessen. Es gibt immer noch die Möglichkeit, Chancen zu ergreifen und sich entfalten zu können. Zuvorderst Freiheit und Demokratie – vermeintliche Selbstverständlichkeiten für Mitteleuropäer im 21. Jahrhundert – sind Indikatoren des Wohlstands. Die Möglichkeit, mobil zu sein, sich Zukunftsperspektiven erarbeiten, seine Meinung vertreten und für Veränderungen eintreten zu können – auch das sind Merkmale einer Wohlstandsgesellschaft. Und einer Gesellschaft, die ernsthaft über die Vier-Tage-Woche debattiert, kann es nicht so schlecht gehen.