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Essay Schöner Lärm: Warum Krach auch eine heilende Wirkung haben kann

Lärm kann nicht nur krank machen, er kann zuweilen auch eine heilsame Wirkung haben. Deshalb ist es nicht nur zu Karneval wichtig, den schallgedämpften Dämmerzustand zu überwinden, meint Markus Peters
11.02.2024, 08:00 Uhr
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Schöner Lärm: Warum Krach auch eine heilende Wirkung haben kann
Von Markus Peters

In den Dörfern und entlegenen Bergtälern des Schweizer Kantons Uri ist seit einigen Tagen nur noch eine Melodie zu hören: der Chatzemusi-Marsch. Das simple Musikstück für Pauken, Trommeln und Blasinstrumente wird vom frühen Morgen des "Schmutzigen Donnerstag" (Altweiberfastnacht) bis zum Austrommeln am späten Fasnachtsdienstag von umerziehenden, kunstvoll verkleideten und maskierten Gruppen gespielt. Immer und immer wieder. Von fünf Uhr morgens bis spät abends. Nicht schön, aber laut. So laut, dass die Trommelschläge von den schroffen Felswänden zurück hallen. Bis zur Unkenntlichkeit entschleunigt und verzerrt, damit selbst der unbedarfte Laie in der Spielschar zwischendurch noch aufs Notenblatt schauen kann. 

Musik als Geisteraustreibung

Doch warum spielen die Karnevalisten einen Marsch, der auf die im Kanton internierten Truppenteile der Bourbaki-Armee im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 zurückgeht? Dahinter steckt – wie im Karneval üblich – eine kräftige Prise Spott. Mit knapper Not hatten sich damals Teile der bis dahin mächtigsten Armee des Kontinents in die neutrale Schweiz retten können. Auf die Bergbauern muss das einen so unglaublichen Eindruck gemacht haben, dass sie nach dem Abzug der Franzosen den Marsch zur musikalischen Begleitung der Karnevalsumzüge erkoren haben.

Diese sind in der alemannischen Fasnacht bereits seit dem Mittelalter bekannt, sind aber wahrscheinlich noch viel älter und gehen wohl zurück auf vorchristliche Rituale zurück. Ursprünglich ging es bei diesem Brauch darum, mit viel Krach und Getöse, aber auch mit einer möglichst furchterregenden Maskerade den Winter endgültig aus den Tälern zu vertreiben. Der Lärm dient als Mittel der Abschreckung. Gegen Eis, Schnee und Frost, gegen die bösen Geister, die angeblich in den Bergen wohnten, und gegen allerlei andere Unwägbarkeiten. Aus diesen umherziehenden Gruppen sind auch die sogenannten Guggemusi-Gruppen entstanden, die in Bremen durch den Samba-Karneval bekannt geworden sind. Der hat übrigens inhaltlich mehr mit Basel als mit Brasilien zu tun. 

Musik als Gemeinschaftserlebnis

Doch die Umzüge und der Lärm im Karneval haben noch eine weitere Dimension: Sie bilden Gemeinschaft. Kurz vor der Fastenzeit werden die noch übrigen Vorräte gemeinsam aufgebraucht, bevor es daran geht, den Grundstein für ein neues Jahr zu legen.

Dieser gemeinschaftsbildende Aspekt des Lärms ist aber auch an anderen Stellen zu beobachten. Zum Beispiel jährlich im August in der schleswig-holsteinischen Gemeinde Wacken. Dort treffen sich Jahr für Jahr Heavy-Metal-Fans zur großen Sause, um ihre Musikrichtung zu feiern. Vom Banker über den Beamten bis zum Bürgergeld-Empfänger – unter der Kutte und in der "Moshpit" (Bereich vor der Bühne) werden alle sozialen  Unterschiede weggepustet. Mit einem Schalldruckpegel von bis zu 139 Dezibel, der einst bei der amerikanische Band "Manowar" gemessen wurde. Bis heute die Rekordmarke. Übrigens: Bei 120 Dezibel liegt die Schmerzgrenze des menschlichen Ohres, 139 Dezibel erzeugt ein Kampfjet beim Start.  

Auch in Fußballstadien ist dieser gemeinschaftsstiftende Effekt gut zu beobachten. So geht es in den Fankurven darum, die eigene Mannschaft anzufeuern und durch Schlachtrufe und Schmähgesänge die gegnerische Mannschaft und ihre Anhänger einzuschüchtern oder sogar zu verspotten. "Ihr seid sch... wie der HSV" schallt es daher mit schöner Regelmäßigkeit im Weser-Stadion. Und nicht von ungefähr haben deshalb  einige Werder-Anhänger vor einer Woche zum 125. Geburtstag ihres Vereins ein illegales Feuerwerk am Osterdeich gezündet. Wer's mit Werder hält, für den dürften die krachenden Geburtstagsgrüße wie Musik geklungen haben. Für andere eher nicht.  

Ausgerechnet der amerikanischen Pop-Sänger Neil Diamond, sonst eher bekannt für sanfte Harmonien, hat dem Straßenlärm einen seiner größten Hits zu verdanken. Als einst seine Tochter Marjorie in New York City der 1970er-Jahre von den wundervollen Geräuschen schwärmte, die von der Straße hinauf ins Hotelzimmer schallten, inspirierte dies den Sänger zu einem seiner größten Hits: "What a Beautiful Noise" (Was für ein schöner Lärm).

Musik als Lebensretter

Nicht alle können allerdings so viel Begeisterung für die Zivilisationsnebengeräusche entwickeln. Bereits vor über 100 Jahren beklagte der deutsche Philosoph Theodor Lessing die Lärmbelastung in den Städten. Die „Qual und Pein“ des „unerschöpflichen Gelärms“ veranlasste ihn 1908 sogar zur Gründung des ersten Deutschen Anti-Lärm Vereins. 

Vielleicht hat dies auch ein Stück dazu beigetragen, dass die moderne Zivilisation keineswegs immer lauter wird. Das Gegenteil ist der Fall. Wie der Hamburger Autor Kai-Ove Kessler in seinem Sachbuch "Die Welt ist laut" erklärt, ging es vor 150 Jahren in den Städten Europas wesentlich geräuschvoller zu als heute. Effektive Lärmschutzmaßnahmen, die Asphaltierung der Straßen, leisere Motoren und der Wegfall von Hufgetrappel, Kutschenrattern und Peitschenknallen sind nur einige Gründe dafür.

Und nun fällt auch noch das Geräusch der Verbrennungsmotoren weg. Weil das nicht nur ein Segen, sondern auch Fluch sein kann, müssen laut einer Verordnung seit 2021 alle E-Autos bis zu einer Geschwindigkeit von 20 Stundenkilometern Geräusche von sich geben. Erst danach wird das Abrollgeräusch der Reifen so stark, dass eine akustische Unterstützung nicht mehr nötig ist. Um einen eigenen Sound zu entwickeln, hat sich ein bayerisches Motorenwerk sogar der Hilfe des bekannten Filmkomponisten Hans Zimmer bedient, um sein eigenes Klangkonzept zu entwickeln. 

Lärm kann also Leben retten. Nicht von ungefähr ist das Ohr auch ein Alarmorgan. Offenbar kann Krach aber gut für das psychische Wohlergehen der Menschen sein. Der Wissenschaftler und Musiker Jörg Scheller hat in seinem Aufsatz "Die beglückende Härte des Heavy Metal" für die Zeitschrift "Psychologie heute" die These vertreten, dass diese Musikrichtung "wie ein Resilienztraining" sei. Er beruft sich dabei auf eine 2018 veröffentlichte Studie der University of South Australia, die zu dem Ergebnis kam, dass Heavy Metal dabei hilft, "Stress in schwierigen Umgebungen zu überstehen und starke und nachhaltige Identitäten und Gemeinschaften aufzubauen, wodurch potenzielle Probleme der psychischen Gesundheit gemildert werden."  

Musik als Stimmungsaufheller

Der promovierte Psychologe Nico Rose geht in seinem Buch "Hard, Heavy & Happy – Heavy Metal und die Kunst des guten Lebens“ sogar von einem kathartischen (reinigenden) Effekt aus: "Die Musik mag oft aggressiv oder traurig daherkommen. In ihrer Wirkung ist sie für den Fan hingegen ausgleichend und stimmungsaufhellend. Der Begriff stammt ursprünglich von Aristoteles und bezeichnet die reinigende Wirkung der Tragödie auf das Publikum. Durch die emotionale Anteilnahme am Bühnengeschehen werde der Zuschauende von seinen eigenen Gefühlen und Regungen gereinigt, so der griechische Philosoph. Das allerdings funktioniert keineswegs nur beim Heavy Metal oder Punk-Rock, sondern so ziemlich bei jeder Art von Musik. 

Hinzu kommt, dass Musik keineswegs nur akustisch wahrgenommen wird, sondern auch taktil, insbesondere in den niedrigen Frequenzbereichen. Nicht nur bei einem Rockkonzert oder in der Disko wird der menschliche Körper zum Mitwippen angeregt, auch in der Kirche oder im Konzertsaal können Boden oder Sitzflächen vibrieren. Diese Schwingungen nimmt man jedoch meist nicht wahr, weil sie mit den anderen Sinneseindrücken zu einem Gesamtkunstwerk verschmelzen. 

Insofern wäre es angesichts der positiven Effekte hilfreich, Lärm eine Weile zu ertragen und sich ab und zu aus dem schallgedämpften, zivilisatorischen Dämmerzustand zu befreien. Denn Begeisterung ist niemals leise.

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