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Gestaltung öffentlichen Raums Friederike Häuser sieht Graffiti nicht als "Zeichen von Verfall"

Laut Friederike Häuser verleihen Illegalität und Anonymität dem Malen im öffentlichen Raum ein politisches Moment. Weil Sprüher automatisch einen strafrechtlich stark geschützten Wert anzweifeln: Eigentum.
22.08.2023, 13:14 Uhr
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Friederike Häuser sieht Graffiti nicht als
Von Elias Fischer

Frau Häuser, Urban Art bezeichnet Kunst im öffentlichen Raum. Das ist Graffiti auch. Worin unterscheiden sich beide Kunstformen?

Friederike Häuser: Die einfachste Unterscheidung: Graffiti ist illegal. Urban Art hingegen ist die legalisierte, institutionalisierte und oft auch kommerzialisierte Form von Graffiti.

Wenn Urban Art kommerziell ist: Wie ist das Verhältnis dieser Kunst zur Werbung?

Kunst und Werbung vermischen sich hier. Hausverwaltungen oder Hauseigentümer können sich beispielsweise dazu entscheiden, ihre komplette Fassade bemalen zu lassen. Dann ist deren Motivation entscheidend: Wollen Sie Graffiti-Künstlerinnen eine Wand geben, die sie frei gestalten können? Oder wollen sie die Wand alle paar Wochen mit einer neuen Werbung bemalen lassen und gehen damit profitorientiert vor?

Welche Auswirkungen hat es auf Graffiti, wenn Sprüher nicht mehr illegal aktiv sind?

Drastische. Wenn sich immer mehr Sprüher dazu entscheiden, legale Aufträge anzunehmen, akzeptieren sie sich als Teil eines Problems, das in den Griff zu kriegen ist. Oft liegt es im neoliberalen Interesse der Unternehmen, Haus- oder auch Stadtverwaltungen, wenn sie Auftragsarbeiten vergeben, dass der Platz im öffentlichen Raum für illegales Graffiti weniger wird: "Kontrolliertes, in ein Geschäftsmodell integriertes Graffiti, ja. Das hässliche Geschmiere, nein!"

In Bremen veranstaltet eine Agentur das Urban Art Festival "Hidden Treasure" auf der Überseeinsel, dem Bauort eines modernen Wohnquartiers. Sie bietet "Graffiti zu Werbezwecken, Urban Art zur Wertsteigerung von Immobilien oder zur Quartiersaufwertung" an. Wie bewerten Sie solche Festivals?

Graffiti und Werbung, das stößt sich ab. Die Agentur schmeißt alles in einen Topf. Diese Verwechslung mit Urban Art hat eine Verwertbarkeitslogik, die sich nicht nur auf die Graffiti-Szene auswirkt: Sie führt zur Wertsteigerung der Gegend, ermöglicht gegebenenfalls höhere Mieteinnahmen, weil die Umgebung als kulturell und künstlerisch vielfältig gilt. Das entscheidet darüber, wo Menschen leben können und wo nicht. Städte oder Unternehmen können in dieser Logik mit Urban Art ihr Image aufbessern. Ich sehe solche Festivals kritisch.

Welche Rolle spielt es, dass Sprüher mit Graffiti anonym Botschaften übermitteln können?

Es ist für mich einer der entscheidenden Aspekte von Graffiti-Künstlern, bildhaft eine Stimme zu haben. Es ist die Möglichkeit, zu stören, Sachen infrage zu stellen. Dafür braucht Graffiti die Illegalität. Und weil man nie wissen kann, wer hinter welchem Bild steckt, sagt das, was man hineininterpretiert, am meisten über einen selbst aus. Dass die gesprühten Bilder gedeutet werden, dass die Leute einen oder eben keinen Wert darin sehen, ist enorm wichtig. Das macht Graffiti automatisch politisch.

Egal, ob Sprüher wollen oder nicht?

Obwohl wir alle in einem Raum leben, bestimmt eine kleine Auswahl an Leuten mit Geld und Eigentum, wie dieser Raum aussieht. Sprüher zweifeln den Wert des Eigentums an oder lehnen ihn sogar ab. Egal ob sie an der Wand eine Botschaft verfasst oder nur ihren Namen gemalt haben, ob sie politisch motiviert sind oder nicht. Graffiti ist kein Zeichen von Verfall, das sind nicht alles Schmierereien, und Sprüher sind nicht allesamt Störenfriede, auch wenn es häufig so wahrgenommen wird.

Haben wir verlernt, uns mit der Gestaltung des öffentlichen Raums auseinanderzusetzen?

Auch hier stellt sich die Frage nach der Motivation, mit der man sich durch den öffentlichen Raum bewegt. Allerdings nimmt man es heute viel zu schnell als normal an, dass alles, was illegal ist, weg muss. Da spielt auch die strafrechtliche Beurteilung von der Verletzung des Eigentums eine Rolle. Ich kann niemandem verübeln, das Malen einzustellen, weil die Bestrafungen immer heftiger werden. Als hätte ein Graffiti-Sprüher jemandem wehgetan, wenn er Farbe auf eine Wand aufträgt. Nicht die kreative Entfaltung eines Menschen gilt als wichtig, sondern der Schutz des Eigentums, das im Strafrecht einen Verbündeten hat.

Und anschließend will die Stadt nicht mehr nur 500.000 Euro jährlich für die Graffiti-Prävention und Farbbeseitigung ausgeben.

Wem bringt dieses ständige Reinigen und Wegmachen von Graffiti etwas? Auf jeden Fall nicht dem Großteil der Menschen, die in einer Stadt wohnen. Es gibt genügend Baustellen in der Sozialpolitik einer jeden Stadt, wo das Geld besser genutzt werden könnte: kostenloser ÖPNV beispielsweise.

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Können Sie sich in Personen hineinversetzen, denen ihr Eigentum wichtig und Graffiti ein Dorn im Auge ist?

Ich kann mir schwer vorstellen, wie es ist, Immobilien zu besitzen, und ich kann den Dorn im Auge nur dann nachvollziehen, wenn Eigentum mit der Annahme einhergeht, dass das ästhetische Empfinden von Eigentümern mehr wert ist als das von anderen Menschen. Ich kann die Perspektive der Menschen, die als Dorn gelten, besser nachvollziehen. Menschen mit viel Macht sollte man nicht auch noch die Gestaltungsmacht überlassen.

Mal angenommen, niemand ginge mehr gegen Graffiti vor. Würde man damit der Szene nicht einfach den Stecker ziehen?

Das ist eine witzige Vorstellung. Wie sähe eine Stadt aus, wenn kein Graffiti weggemacht werden würde? Aber solange in unserer kapitalistischen Gesellschaft Farbe als Kaputtmachen eingeordnet wird, ist sie sehr utopisch. Das wäre ein Kontrollverlust, der nicht ins unternehmerische Denken passt.

Dieses Gespräch führte Elias Fischer.

Zur Person

Friederike Häuser (37)

ist Sozialarbeiterin und Kriminologin. Sie arbeitet in der Extremismusintervention der Stadt Hamburg. Im Mai hat sie zusammen mit Robert Kaltenhäuser das Buch "Graffiti und Politik" herausgeben, in dem mehrere Experten und Expertinnen unter anderem beleuchten, wie sich Graffiti auf die Gestaltungsmacht im öffentlichen Raum auswirkt.

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