Wer an Pilze denkt, hat vielleicht Szenen aus dem herbstlichen Wald oder manchmal auch weniger angenehme Erinnerungen an alte Lebensmittel oder feuchte Wände vor Augen. Michael Freitag und Birte Pupkes vom Bremer Institut für Produktion und Logistik (Biba), einem An-Institut der Universität Bremen, verbinden mit Pilzen noch etwas anderes: Kühlboxen.
Gemeinsam mit weiteren Partnern und gefördert von der Volkswagen-Stiftung forschen sie im Projekt MycelCycle daran, Pilzgeflechte zu nutzen, um Kunststoffverpackungen wie Styropor durch nachhaltige Alternativen zu ersetzen.
„Der Onlinehandel mit Lebensmitteln wird immer populärer“, erzählt Projektleiter Freitag. Zwar sei das Ausmaß in anderen Ländern noch größer als in Deutschland, aber auch hier habe es durch die Corona-Pandemie einen Schub gegeben. Auf ihrem Weg müssen die Lebensmittel meist stoßsicher, vor Feuchtigkeit geschützt und oftmals auch gekühlt verpackt werden. Das Mittel der Wahl ist dazu in der Regel Styropor.
„In Deutschland sammeln wir zwar Kunststoffe über den Gelben Sack, aber die Hälfte davon wird immer noch verbrannt, und in anderen Ländern liegt der Müll oft einfach in der Natur herum“, erläutert Freitag. Zudem müsse der Kunststoff energieintensiv hergestellt werden. „Warum nutzen wir nicht natürliche Materialien, die wir mehrmals wiederverwenden können und die, wenn sie nicht mehr verwendbar sind, problemlos in der Natur belassen werden können?“
Bei der Suche nach Antworten stießen die Bremer auf Kollegen an der Universität Göttingen. Dort entwickelt ein Team sogenannte Myzel-Verbundwerkstoffe, aus denen Dämmelemente für das Bauwesen produziert werden können. Myzel bezeichnet das feine Geflecht aus Fäden, das bei Pilzen in den Boden oder andere Nährquellen hineinwächst. Durchwuchert der Pilz mit seinem Myzel einen Werkstoff – etwa Sägespäne, Hanffasern oder Stroh – entsteht auf natürliche Weise und in recht kurzer Zeit ein biologisch abbaubarer Verbundwerkstoff. Klassische Faserverbundwerkstoffe sind hingegen mit Kunstharzen verklebt. „Das ist ganz schlecht fürs Recycling“, sagt Freitag. Und biologisch abbaubar sind sie schon gar nicht.
KI hilft bei der Suche nach dem richtigen Mix
Praktisch sieht das etwa so aus, dass die Forscher den losen nachwachsenden Rohstoff – oder besser Reststoff – mit Pilzsporen vermischen und anschließend damit eine Form füllen. In der Form wächst der Pilz bei passender Temperatur und Feuchtigkeit in die Zwischenräume und verbindet den losen Reststoff. Abschließend wird der Pilz durch eine Hitzebehandlung abgetötet, damit er nicht weiter wächst. „Wir schauen auch, ob es bestimmte Geometrien gibt, die sich gut nutzen lassen, um flexibel unterschiedliche Verpackungsformen zusammenzufügen“, erläutert Pupkes die Pläne.
Denn noch steht das Projekt ziemlich am Anfang. Die Beteiligten untersuchen derzeit, welche Mischung an Grundmaterialien in welchen Mengenverhältnissen und in Kombination mit welchem Pilz die besten Materialeigenschaften erzeugt. „Es wäre in der Projektzeit unmöglich, alle Kombinationen auszuprobieren“, erzählt Freitag. Das Team setzt daher auf eine Künstliche Intelligenz, die Vorhersagen machen soll, welche Kombinationen besonders vielversprechend sein könnten. Nicht zuletzt berücksichtigen die Forscher dabei, welche biobasierten Reststoffe überhaupt in der Region in relevanten Mengen verfügbar sind.
Eine zweite KI-Anwendung erläutert Pupkes, die den Projekteil am BIBA leitet: „Wir wollen die Qualität im Prozess durch bildgebende Verfahren überwachen und dazu eine KI so trainieren, dass sie automatisch erkennt, wenn Fehlstellen auftreten.“
Ohne Anschubhilfe wird es schwierig
Am Ende des vierjährigen Projekts soll es mehrere Myzel-Verbundwerkstoffe für unterschiedliche Verpackungsanwendungen geben, inklusive der entsprechenden Herstellungsprozesse. Diese Prozesse allerdings müssten dann seitens der Industrie durch weitere Entwicklung auf produktionsrelevante Dimensionen hochskaliert werden. Das passiert natürlich nur, wenn es sich wirtschaftlich lohnt.
Das Bremer Team will deshalb nicht nur über eine Lebenszyklusanalyse die ökologische Nachhaltigkeit der pilzbasierten Werkstoffe untersuchen, sondern auch Angebot und Bedarfe prüfen sowie die Kostenfrage analysieren. „In den vier Jahren werden keine marktreifen Produkte entstehen, wir zeigen zunächst, was technisch machbar ist“, ordnet Freitag ein. „Aber wir sehen durchaus wirtschaftliches Potenzial.“ Dabei werde die umweltfreundliche Alternative anfangs bei kleinen Produktionszahlen wahrscheinlich teurer sein als Styropor und erst in großer Menge konkurrenzfähig. „Aber wir haben bei Plastiktüten im Supermarkt gesehen, was möglich ist, wenn der Gesetzgeber regulatorische Maßnahmen nutzt“, sagt der Projektleiter.
Außerdem geht es in MycelCycle um mehr als Kühlboxen. „Wir wollen hier eine universell anwendbare Methode aufzeigen, um Produkte zu entwickeln, die aus biologischen Rohstoffen zusammengesetzt sind“, erklärt Freitag – von der Wahl des Materials und des Herstellungsprozesses über die Qualitätskontrolle und ein späteres Recycling.
Dabei soll es egal sein, ob jemand kompostierbare Golfbälle für Anfänger herstellt, die irgendwo landen und nicht wiedergefunden werden, oder ob bei einer Großveranstaltung wie Olympia zeitlich begrenzt Wohnraum geschaffen werden muss. „Baumaterial aus Myzelverbundwerkstoffen könnte recycelt werden, sobald die Häuser nicht mehr benötigt werden“, sagt Pupkes. Und auch wenn weder der Golfanfänger noch die Olympionikin an Pilze denken würden: Die Umwelt und das Klima würden profitieren.