Frau Mayr, in Ihrem Buch "Die Elenden" beschreiben Sie Arbeitslosigkeit als notwendigen Bestandteil einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Wenn man sich anschaut, dass die Politik die Bekämpfung regelmäßig zur großen Aufgabe erklärt, fällt Ihr Urteil da nicht zu harsch aus?
Anna Mayr: Ich denke nicht, dass es zu harsch ist, sondern die Wahrheit. Wir sprechen immer darüber, dass Arbeitslosigkeit bekämpft werden muss, und das ist nicht ganz falsch. Arbeitslosigkeit ist an sich nicht schön, der Mensch möchte tätig sein, etwas haben, was ihn durch den Tag bringt. Das alles garantiert in unserer Gesellschaft die Arbeit. Die Frage ist: Wem geben wir die Schuld für Arbeitslosigkeit? Das war in den vergangenen 20 Jahren immer der Arbeitslose. Jetzt verschiebt sich das.
Wohin verschiebt sich das?
Es wird immer deutlicher, dass es an einem Wirtschaftssystem liegt, in dem es Krisen gibt und Fluktuationen und dadurch auch immer Arbeitslosigkeit.
Wie ist das zu ändern ohne kompletten Systemwechsel?
Es gibt einige Möglichkeiten. In Berlin gibt es beispielsweise ein Projekt, das heißt "solidarisches Grundeinkommen" und ist ein zweiter Arbeitsmarkt. Dort können Menschen für einen Mindestlohn in städtischen Betrieben oder karitativen Einrichtungen arbeiten. Das sind Langzeitarbeitlose, die sonst nirgendwo mehr untergekommen wären und dort einen festen Job haben. Das bringt am Ende allen etwas: Es sind Arbeiten, die notwendig sind, sich aber auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht lohnen. Und die Langzeitarbeitslosen erhalten ihre Würde zurück.
Stichwort Würde: In Ihrem Buch geht es darum, wie wenig sichtbar Arbeitslose in der Gesellschaft sind. Sie sind selbst als Kind zweier Langzeitarbeitsloser aufgewachsen – was macht diese Situation auf Dauer mit einem?
Arbeitslose werden als Gruppe aktiv ausgeschlossen. Das ist die grundlegende These des Buches, dass wir den Arbeitslosen als das Falsche denken müssen, damit wir Arbeitenden uns als das Richtige denken können. Damit ich weiß, dass meine Arbeit sinnvoll ist, müssen Arbeitslose das Unsinnige tun. Damit ich weiß, dass es toll ist, dass ich mir alles kaufen kann, müssen Arbeitslose arm sein und sich nichts leisten können.
Als Gegenentwurf.
Als Gegenteil des richtigen Lebens. Das falsche Leben sind immer die Arbeitslosen. Am Ende hat der Arbeitslose keine Identität, das macht es mit einem. Die meisten Menschen bilden sich ihre Identität aus der Arbeit, und die fehlt dann.
Für nicht sonderlich effektiv halten Sie die vielen staatlichen und nicht-staatlichen Hilfsangebote, die im Zweifelsfall auf eine freundliche Entmündigung hinauslaufen. Was könnte stattdessen sinnvoll sein?
Die Bundesagentur für Arbeit zahlt Geld an die Weiterbildungsinstitute, das heißt, diese sind am Ende Nutznießer eines Systems, das versucht, mit den Gegebenheiten des Marktes so gut wie möglich umzugehen. Daran scheitern sie, weil dort, wo sich unbürokratisch Geld verdienen lässt, also mit der Weiterbildung von Arbeitslosen, treten auch viele schwarze Schafe auf den Plan. Also: Wenn man beginnen würde, diese Weiterbildungsinstitute zu kontrollieren, wäre schon mal ein großes Problem gelöst.
Reicht das?
Es gibt nicht genug Arbeit für alle. Selbst wenn wir sagen, wir haben soundsoviele offene Stellen, haben wir nicht automatisch genauso viele Menschen, für die diese Stellen passend sind. Viele, die arbeitslos sind, sind in Wahrheit nicht mehr erwerbsfähig und daher arm. Und wir sollten uns als Gesellschaft darauf einigen, dass es keine Armut geben sollte, egal, ob ein Mensch etwas tut oder nicht. Diejenigen, die wirklich nichts tun wollen, sind sehr wenige. Und die hält unsere Gesellschaft aus.
Als Gegenmittel gegen Armut wird immer wieder die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens angeführt. Davon halten Sie nichts.
Die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens ist eine neoliberale Idee, die oft damit einhergeht, dass staatliche Sicherungssysteme im Gegenzug abgeschafft werden. Man braucht keine Versicherungen, Gewerkschaften oder Kündigungsschutz mehr – man führt das Grundeinkommen ein, und dann haben alle immer genug zu essen. Das ist für die Arbeitgeber ein total guter Deal, weil sie so ihre Ausgaben für Sozialbeiträge senken können. Denn die zahlt dann der Staat. Es ist also ein Geschenk an die Arbeitgeber und nimmt gleichzeitig der Mittelschicht viel Geld weg.
Warum?
Die Mittelschicht würde eher nicht davon profitieren, sondern hätte nur das gute Gefühl, sie könnte das bedingungslose Grundeinkommen erhalten. Gleichzeitig zahlt die Mittelschicht am meisten dafür ein. Das schafft keine Verteilungsgerechtigkeit und ist eher ein Weg, die Mittelschicht zu veräppeln. Man macht ihr vor, das wäre ein neues tolles Sicherungssystem, in Wirklichkeit ist es wie Hartz IV. So kann ein Staat nicht handeln: Einfach jedem 1000 Euro in die Hand drücken und sich wegdrehen. Das muss schon differenzierter sein: Ein Familienvater braucht mehr Geld, wenn er arbeitslos ist als eine alleinstehende junge Frau.
Hat sich durch die Corona-Pandemie und die sozialen Verwerfungen das Bewusstsein für diese Sicht der Dinge geschärft?
Corona hat verdeutlicht, wie die Verhältnisse sind: Wir zählen als Menschen nicht so viel wie als Arbeitskräfte. Am Ende muss ich mich als Staat entscheiden. Ich kann von Anfang an mehr Geld in die Kinder von Arbeitslosen investieren und lasse sie ein normales Leben leben ohne Existenzängste. Dann erhalte ich mündige Bürger, die ihre Chancen nutzen und der Gesellschaft etwas zurückgeben. Das wäre wirtschaftlich sinnvoll. Oder aber ich lasse sie verarmen als Symbol der Angst und habe dann Leute, die ich dauerhaft alimentieren muss. Diese Auffassung, man müsse Arbeitslose unbedingt sanktionieren für ihre Arbeitslosigkeit, gibt es in allen Parteien außer der CDU mittlerweile so deutlich nicht mehr.
Sie sind also optimistisch?
Ja. Als ich das Buch geschrieben habe, habe ich 700 Euro als Hartz-IV-Satz gefordert. Das fand ich total mutig von mir. Bei der Linken und den Grünen ist diese Summe jetzt schon höher. Der Diskurs hat mich also überholt, das finde ich sehr angenehm.
Das Gespräch führte Iris Hetscher.