Bremen. Solange er nicht den Taktstock in der Hand hat, ist Jérémie Rhorer kaum auszumachen zwischen den Musikern seines Orchesters "Le Cercle de l‘Harmonie". Kein Hauch von Stargehabe oder imagefördernder Exzentrik umweht den Dirigenten. Wenn die Musiker nach der Probe in einem Bistro an der Seine noch etwas trinken, kann er eine ganze Weile mit dem Weinglas in der Hand in der Gruppe dastehen und schweigen. Die dunklen Locken über dem weichen Gesicht sind ordentlich gekämmt, die Augen hinter den Brillengläsern scheinen beim Zuhören noch größer zu werden. Hin und wieder wirft er eine sehr genau formulierte Frage ein.
Auch am Pult ist der Mann sehr präzise. Bei Proben geht er überaus sorgsam vor; er gestaltet noch die kleinste Wendung sinnbewusst, feilt an Intonation und Balance und bringt, ohne große Worte zu machen, den Klang der alten Instrumente mit ausgefeilt und organisch wirkenden Bewegungen zum Blühen. Und wenn er im Operngraben steht, entfesselt er Mozarts Musik, dass einem schwindlig werden kann: So unpoliert ist das Klangbild, so sehr steigern sich die Klänge – immer in engem Kontakt mit den Sängern. Nur manchmal vermisst man in all dem Furor so etwas wie ein Innehalten, eine Weichheit der Übergänge.
Am 2. September führen Rhorer und sein Orchester beim Bremer Musikfest Mozarts "Le nozze di Figaro" in einer konzertanten Fassung in der Glocke auf. Dem Bremer Publikum sind sie wohlbekannt – dank des findigen Intendanten Thomas Albert. Ihm kommt das große Verdienst zu, Rhorer für Deutschland entdeckt zu haben. Anderenorts hat die deutsche Öffentlichkeit ihn und sein Ensemble bislang allenfalls als kongeniale Begleiter von Starsängern wie der Sopranistin Diana Damrau oder dem Countertenor Philippe Jaroussky zur Kenntnis genommen. Soll heißen: selten. Dabei hat der 39-Jährige längst bei den Salzburger Festspielen und an der Wiener Staatsoper debütiert. In Frankreich ist Rhorer ohnehin eine feste Größe – und das keineswegs nur auf dem Gebiet der Alten Musik. Er ist an der Opéra Bastille in Paris aufgetreten, er hat das Orchestre Philharmonique de Radio France dirigiert und auch noch selbst Kompositionspreise gewonnen.
Während einer Probenpause sitzt Rhorer im legendären Café de Flore am Pariser Boulevard Saint Germain. Kellner rufen, Tassen klappern, die Gäste unterhalten sich lautstark, doch trotz der ohrenbetäubenden Geräuschkulisse ist Rhorer im Gespräch hochkonzentriert. Jede Nuance greift er auf. "Ich stelle mir unaufhörlich Fragen", sagt er über seine Arbeit. "Ich versuche, so nah wie möglich an das heranzukommen, was der Komponist wollte."
Mit "Le Cercle de l‘Harmonie" pflegt Rhorer das französische Repertoire um 1800 – und natürlich Mozart, Dreh- und Angelpunkt von Rhorers musikalischem Denken. "Er lässt die Dinge kunstvoll in der Schwebe. Wo seine Zeitgenossen dramatische Szenen schreiben, reicht ihm eine rätselhafte harmonische Wendung, um einen psychologischen Vorgang auszudrücken", begründet Rhorer, was ihn an Mozart fesselt. "Selbst finstere Charaktere haben zärtliche Momente. Das Menschliche seines Blicks überwältigt mich."
Seine Fassung der "Hochzeit des Figaro" beim Festival von Beaune begeisterte den Kritiker der Tageszeitung "Le Figaro" derart, dass er ihn auf eine Ebene mit William Christie und Marc Minkowski hob, den beiden französischen Großmeistern der Alten Musik – und ihm obendrein eine bessere Dirigiertechnik bescheinigte.
Solche Hymnen sind Rhorer offenkundig unangenehm. Sonst nicht um Worte verlegen, schaut er am Cafétisch in seine Tasse, als könnte er auf ihrem Grund die richtige Antwort lesen. "Natürlich glaube ich daran", murmelt er schließlich, "dass man Dinge mit Gesten vermitteln kann." Das Verwandeln von Gesten in Musik hat ihn schon als Elfjährigen fasziniert. Da sang er in der Chorakademie von Radio France und konnte die Gesten des Dirigenten aus der Nähe beobachten. Diesen Beruf wollte er auch ausübern, beschloss er.
Mit 16 traf er den bulgarischen Dirigenten und Karajan-Schüler Emil Tschakarow, der ihn förderte. "Für ihn war Dirigieren Handwerk", sagt Rhorer. "Zwar glaube ich, dass man auch Ausstrahlung braucht. Aber Begabung danach zu beurteilen, wie jemand das Podium betritt, so wie Sergiu Celibidache das tat, das finde ich brutal."
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