Urbanes Quartier – das scheint seit einigen Jahren das Zauberwort der Stadtplanung zu sein. Das Wundermittel gegen quasi alles, gegen Leerstand, gegen Stadtflucht, gegen Wohnungsnot. Und die ideale Lösung, um Wege kurz zu halten und aus alten, verwaisten Flächen und Bauten etwas Hippes und Neues zu machen. Im Grunde beschreibt der Begriff lediglich eine Bauplanung, bei der sich Wohnraum, Büros, soziale und kulturelle Einrichtungen in unmittelbarer Nähe zueinander befinden – also genau das Gegenteil von dem, was lange Zeit im Städtebau angesagt war.
Laut einer Studie der Immobilienagentur Catella tauchte 2010 der Begriff Quartier nur in sechs Projekten auf. 2019 waren es bereits 54. Andererseits tauchen diese Quartiere aber natürlich vor allem dort auf, wo es bisher nicht urban genug zugeht, wo in Bezug auf Infrastruktur, Wohlfühl-Wohnfaktor und Vielfalt noch Nachholbedarf besteht.
Der Bremer Stadtteil Woltmershausen ist so ein Ort, der gerade in der Schwebe hängt zwischen Problemzone und neuem Szene-Stadtteil. Lange Zeit war er einfach nur da, wenig beliebt, wenig beachtet. Jetzt passiert unglaublich viel. Doch es gibt auch ein großes Imageproblem: Den Irrglauben, Woltmershausen sei weit ab vom Schuss und dass es dort nichts zu erleben gebe, muss man erst einmal wieder aus den Köpfen der Bremer herausbekommen.
Doch die Stadt und das Unternehmen Justus Grosse, das gerade dem Gelände der ehemaligen Zigaretten- und Tabakfabrik Martin Brinkmann neues Leben einhaucht, haben eine Sache schon jetzt richtig gemacht: Sie haben die Kultur von Anfang an als wichtigen Baustein in ihre Planungen miteinbezogen.
Das ist bei Weitem nicht immer so, wie alleine ein Blick in die Bremer Innenstadt zeigt. Hier wurde das Thema Kultur lange Zeit eher stiefmütterlich behandelt. Erst jetzt, wo viele Gebäude leer stehen, gibt man den Kulturakteuren die Chance, die Innenstadt wieder mit Leben zu füllen. Ganz nach dem Motto: Leerstand? Nein, dann doch lieber Kultur-Spielwiese.
Im Tabakquartier in Woltmershausen hingegen wird Kultur mit dem neuen Zuhause der Philharmoniker, dem Boulevard-Theater und einem Zentrum für Kunst für die freie Szene zu einem zentralen Baustein und Anziehungsfaktor. Ein paar Kilometer weiter: Dank des Event-Strands Lankenauer Höft in Rablinghausen trauen sich schon jetzt immer mehr Bremer, die nicht dort wohnen, in den südlichen Stadtbezirk und merken, wie innenstadtnah er wirklich ist. Auch die Pusdorf-Studios locken mit Veranstaltungen – aktuell sogar mit einem Standort der Breminale Dezentrale – vor allem junge Leute an. Spätestens das sollte zeigen, dass Kultur bei der Stadtplanung mehr sein muss als hübsches Beiwerk.
„Kultur braucht der Mensch, um sich artgerecht am Leben zu erhalten“, hat die Philosophie-Professorin Birgit Recki einmal in einem Interview gesagt. Und sie geht sogar noch weiter: „Wir sind nichts ohne Kultur.“
Ob diese Kultur nun als Klassik-Konzert daherkommt, als Komödie oder als Beach-Club ist im Grunde egal. Vielmehr könnte genau diese Mischung aus möglichst unterschiedlichen Angeboten der Schlüssel sein, um das Tabakquartier und ganz Woltmershausen zu einer beliebten Adresse zu machen. Denn: Wenn man schon mal da ist, am Ort des Geschehens, guckt man vielleicht auch mal nach rechts und links über den Tellerrand auf die anderen Angebote.
Um es mit den Worten von Birgit Recki zu sagen: „Kultur ist eine Glückschance.“ Werden die richtigen Schritte gegangen – und dazu gehört neben dem kulturellen Angebot in Woltmershausen auch, schnellstmöglich die bestehenden Verkehrs- und Anbindungsprobleme zu lösen – hat der Stadtteil durchaus das Potenzial, ein Szene-Viertel zu werden. Doch das ist, ebenso wie die Klänge der Bremer Philharmoniker in der Fabrikhalle und das Lachen im Boulevard-Theater, aktuell noch reine Zukunftsmusik.