Sich von jedem Erstbesten verführen lassen? Das fällt Franziska (Fania Sorel) gar nicht ein. "Ich verführe!", sagt gleich zu Beginn die Hauptfigur der Inszenierung von Frank Wedekinds "Franziska. Ein modernes Mysterium", die am Freitagabend im Kleinen Haus des Theaters Bremen Premiere feierte. Im Jahr 1911 schrieb der Dramatiker das damals kontrovers diskutierte Stück, das die Geschichte einer jungen Frau erzählt, die einen Pakt mit dem Teufel eingeht. Die freiheitsliebende Franziska wird so für zwei Jahre zum Franz und darf die Vorzüge des männlichen Daseins genießen. Und weil Teufel für ihre Leistungen in der Regel auch etwas zurückfordern, muss Franziska versprechen, nach Ablauf der Frist seine Leibeigene, seine Sklavin zu werden.
Soviel zum Gerüst der modernen Wedekindschen Erzählung – und viel mehr lässt Regisseurin Pinar Karabulut auch nicht übrig vom Original. Stattdessen wagt sie eine Art feministisches Crossover, eine wilde Mischung aus verschiedenen Stilen und Epochen. Es geht von Berlin und München nach Rotenburg (Wümme). Einmal von "Franziska" zu "Lady Gaga" zu "Polly Pocket" und über Roman Pola?skis "Rosemary’s Baby" und Fettes Brot wieder zurück. Etliche popkulturelle Anleihen sind über die gut 90 Minuten des Stücks verstreut und nicht immer weiß das Publikum etwas mit ihnen anzufangen.
Doch am deutlichsten sind die Bezüge zu Goethes "Faust". Der wird an diesem Abend etliche Male zitiert. Mal wird er zum männlichen Gegenpol von Wedekinds "Franziska", mal mit ihr verrührt. Statt Mephistopheles heißt der Teufel hier Veit Kunz (Annemaaike Bakker). Er ist Sternenlenker, macht aus einfachen Menschen Sterne am (Pop-)Himmel. Und doch ist er auch bei Karabulut, "ein Teil des Teils, der anfangs alles war". Aber auch der "echte", Goethes Mephistopheles (Alexander Swoboda) hat seinen Auftritt. Er crasht samt Faust (Christian Freund) im Schlepptau eine Party. "Was machst du denn hier?", fragt sich da überrascht Veit Kunz, und performt – nachdem sie ihn verabschiedet hat – Lady Gagas "Love Game" (zu Deutsch: Liebesspiel). Dazu öffnet sich dann endlich das bunte Polly-Pocket-Puppenhaus auf der Bühne, um Franziskas Wandlung zum Franz scheinbar abzuschließen.
Geschlechterrollen werden aufgelöst
Scheinbar, denn so ganz wird das nichts. "Als was bist du geboren?", fragt der Herzog von Rotenburg (Ferdinand Lehmann) Franziska einmal. Und anders als im Original ist die Antwort an diesem Abend nicht "als Knabe", sondern "als Mensch".
Und überhaupt: Geschlechterrollen, die ja schon bei Wedekind hinterfragt werden, schmeißen Karabulut und Kostümbildnerin Aleksandra Pavlovic in dieser Inszenierung gleich völlig über den Haufen. Ob der Teufel in Leggins oder der Verehrer im pinken Kostüm – hier werden sämtliche Zuschreibungen aufgelöst. Trotzdem hat das Publikum nie das Problem, zu wissen, wer dort gerade wen oder was spielt.
Ganz hervorragend passt dazu auch die Bühne (Johanna Stenzel). Mal steht sie in hartem Kontrast zu den Figuren und dem Gesagten, mal unterstreicht sie, was hier gerade passiert. Immer wieder bewegen sich die Schauspielerinnen in roboterhaften Trippelschritten durch die Welt wie in einem Stop-Motion-Film.
Zwischen Vorstadtidyll und Fetisch-Club
Dazu ist insbesondere noch das Spiel von Annemaaike Bakker hervorzuheben. Sie verkörpert den Teufel Veit Kunz mal katzenhaft, mal aggressiv und jederzeit so präsent, dass er zur eigentlichen Hauptfigur des Stückes wird.
Man muss bei dem bunten Potpourri, das hier gezeigt wird, allerdings schon sehr gut aufpassen, dass man nicht unterwegs den Anschluss verpasst: Von den ursprünglichen fünf Akten schaffen es nicht alle in Karabuluts "Franziska"-Adaption. Dazu lässt sie die Sprachwelten des 18. Jahrhunderts auf das Denglisch von heute prallen und es passiert oft vieles gleichzeitig. Da wird gesungen, gestöhnt, geprügelt und gejault. Dass man dabei irgendwo zwischen vermeintlich bürgerlichem Vorstadtidyll und dem Ambiente eines Fetisch-Clubs nicht mehr so recht weiß, was hier eigentlich gerade vor sich geht, kann durchaus passieren. Behält man den Durchblick, macht das Ganze aber durchaus Spaß. Wer sich an diesem Abend allerdings auf einen klassischen Wedekind gefreut hat, wird womöglich enttäuscht nach Hause gehen.