Herr Chauvin, zu Antonio Vivaldis “Vier Jahreszeiten” lassen Sie tanzen. Ist Vivaldi besser tanzbar als Bach oder Händel?
Julien Chauvin: Sie sind alle gut tanzbar. Der Unterschied: Niemand legt beim Tanzen eine solche Freude an den Tag wie Vivaldi. Sogar in seiner Cello-Sonate, erst recht in der Ouvertüre zur Oper „Olimpiade“ und der Sinfonia rustica, die alle in unserem Konzert vorkommen, trägt seine Musik ein Lächeln auf den Lippen. Vivaldi, ich kann mir nicht helfen, speichert die Energie des Glücks. Das haben ihm auch die Musikgeschichtler bis heute nicht verziehen. Zum Jubiläum der „Quattro Stagioni“, die vor 300 Jahren komponiert wurden, wird es sich hoffentlich ändern.
Warum ist Vivaldi freudvoller als andere?
Es ging ihm um die Befriedigung seiner Hörer. Darin war er so erfolgreich, dass ich glaube, die Kosten für eine Vivaldi-Aufführung sollten von der Krankenkasse übernommen werden. Man kann ihn auch nicht routiniert runterspielen. Er macht einfach Spaß. Vivaldi ist ein rezeptfreies Vergnügen.
Dann wundert man sich allerdings doppelt, dass Vivaldi früher oft angezweifelt wurde.
Es gibt halt Leute, die nicht geheilt werden wollen. Ich meine das ganz im Ernst. Vivaldi ist der im Grunde ehrlichste Komponist, den man sich denken kann. Bei aller Virtuosität hat er große Einfachheit und Direktheit in die Musik eingeführt. Auch die Wiederholung der Rhythmen, der Drive zieht einen unweigerlich in die Musik hinein. Neben dem heilenden Aspekt hat er auch einen narkotischen Effekt in der Musik erfunden.
Die Glocke verfügt nicht unbedingt über eine ideale Tanz-Bühne. Sitzt Ihr Ensemble auf der Seite, während vorne ein bisschen Platz für die Tänzer freigeräumt wurde?
Wir sitzen dahinter. Ich selber, als Solist der „Quattro Stagioni“, bewege mich ebenso über die Bühne wie die Tänzer auch. Das ganze Ensemble, das barfuß auftreten soll, wird sich tänzerisch bewegen. Das macht die Sache nicht unbedingt leichter, denn es handelt sich um sehr virtuose Musik. Aber wir kriegen das schon hin.
Befürchten Sie nicht, dass die Tänzer Ihnen die Show stehlen?
Die Musik kommt zuerst. Wir sind sehr respektvoll. Und wollen eine Verbindung eingehen, die allerdings womöglich noch nie da war.
Können Sie als Geiger besser tanzen als die meisten Dirigenten?
Könnte sein. Ich brauche als Geiger immer das Gefühl, die Füße auf dem Boden zu haben. Und bin auch als Solist nicht so festgenagelt wie Dirigenten. Das mag ein Grund für die sprichwörtliche Tanzfaulheit der Orchesterleiter sein. Sie bewegen sich nicht, und kriegen die Füße einfach nicht von der Stelle.
Wie passt Vivaldi mit dem Hip-Hop des Choreographen Mourad Merzouki zusammen?
Durch den Boden. Auf ihm stehen und bewegen wir uns alle. Breakdancer werden bei uns gelegentlich auf einer Hand stehen. Ich glaube, dass Vivaldi sportive Aspekte geradezu in die Musik eingeführt hat.
Ihre Regisseurin Coline Serreau wurde durch französische Filme wie “Pourquoi pas?” und “Milch und Schokolade” bekannt. Macht Sie aus Vivaldi einen Liebesfilm?
Nein. Auch in ihren Filmen spielt die Natur eine große Rolle. Dazu gehören Kostüme, die von ihr entworfen werden. Eigentlich ging es darum, mehrere Arten von Publikum zusammenzubringen. Das Verbindende zwischen allem ist die Bewegung.
Im zweiten Konzert, in Garrel, dirigieren Sie Haydns “Schöpfung” in einer Kirche. Handelt es sich um ein religiöses Werk?
Haydns „Schöpfung“ gehört nicht unbedingt in eine Kirche. Passt aber hinein. Wenn etwa das Licht kreiert wird, so berührt das in einer Kirche mehr. Alle Naturbezüge, die Tiere, das Wetter auch sind schon schwieriger darzustellen. Wenn das gelingt, wirkt es umso stärker.
Haydn steht in dem Ruf, “humorig” zu sein. Auch in der „Schöpfung”?
Sagen wir lieber: voller Esprit. Haydn hat Witz, nicht Witze. Man könnte auch ein anderes altmodisches Wort anbringen: Takt. Haydn ist taktvoll. Ich habe viele seiner Symphonien dirigiert, und dabei immer den Eindruck gewonnen, es läge ein Text drunter, den Haydn dezent und höflich genug war, nicht auszusprechen. Stattdessen gibt er Titel wie „Der Bär“ oder „Die Henne“. Eine Tombola, bei der wir einmal das Publikum baten, sich für die namenlosen Symphonien Titel auszudenken, war ein voller Erfolg. Wir sollten es einmal wieder machen.
Warum sind Sie in Deutschland eher unbekannt?
Derlei hat immer etwas mit Agenten zu tun. Wir haben jetzt einen neuen.
Ursprünglich sind Sie Geiger. War der Schritt zum Dirigenten nicht unnötig?
Ich bin kein geborener Solist. Allein zu sein liegt mir nicht. Außerdem war die Szene französischer Barockensemble, als wir anfingen, nicht so gut sortiert. Übrigens dirigiere ich nichts aus dem 19. Jahrhundert so wie viele andere. Ich möchte mich beschränken. Und dabei in einer Gruppe aufgehoben sein.
Viele Geiger schauen zu Sängern auf. Sie auch?
Sogar sehr. Ich betrachte mich nicht als Instrumentalisten. Sondern als Vokalisten. Auch als Dirigent sehe ich mich so. Alle Musiker sollten singen. Ich mag die Violine als Instrument gar nicht sonderlich. Sie ist ein Gerät, ein Werkzeug. Wenn ich Sängerinnen wie Sandrine Piau oder den Countertenor Philippe Jaroussky höre, könnte ich vor Neid erblassen. Ich versuche so schön zu spielen, wie sie singen.
Seit Jahren coachen Sie nebenbei Führungskräfte in Seminaren und Fortbildungsveranstaltungen. Was können Sie denen beibringen?
Ich mache das seit 15 Jahren. Denn ich habe festgestellt, dass die Funktionsweise von Orchestern und Firmen nicht so unterschiedlich ist, wie man denkt. Ich setze die Teilnehmer zwischen die Musiker mitten ins Orchester hinein. Der Lerneffekt ist ungeheuer. Die Teilnehmer lernen, dass Arbeit als Gruppenvorgang angesehen werden sollte. Die Veranstaltungen sind ungeheuer beliebt.
Warum sind Sie einer der wenigen Solisten, die auf der Bühne eine Brille tragen?
Ich habe keine Wahl. Kontaktlinsen könnte ich nicht aushalten. Nichts zu sehen, wie es kurzsichtige Kollegen praktizieren, wäre theoretisch eine Option. Ich habe, im Rahmen eines Konzert-Experimentes, sogar einmal in völliger Dunkelheit gespielt. Toll! Das Problem ist nur: Ich bevorzuge den Kontakt mit dem Publikum. Dafür aber muss ich es sehen.
Sie sind auch einer der sehr wenigen Geiger mit Zopf. Offenes Haar wie bei Anne-Sophie Mutter käme für Sie nicht infrage?
Ich kenne nur einen männlichen Kollegen, der die Haare offen trägt: Nemanja Radulovic. Er macht eine gute Show daraus. Ich öffne mein Haar nur nachts. Und fürs Shampoo.