Herr Minkowski, vor genau zwanzig Jahren sprachen wir in Salzburg miteinander, zwei Tage vor Ihrer “Fledermaus”-Premiere, inszeniert von Hans Neuenfels. Die Produktion war ein krachender Reinfall. Losgelassen hat Sie das Stück nicht?
Marc Minkowski: Ich erinnere mich oft daran. Inzwischen ist Hans nicht mehr unter uns. Ich bekam jeden Abend die Buhs ab, die er nur bei der Premiere hören musste. Die Proben indes waren sehr schön. Und die „Fledermaus“ – es war damals meine Erste – hat in Frankreich eine starke Tradition. Sie ist für mich sehr mit Offenbach verbunden, sodass ich immer wieder dazu zurückkehren will. Eine meiner Lieblingsaufnahmen ist übrigens die "Fledermaus“ von Carlos Kleiber. Ich liebe Ivan Rebroff, den Orlowsky.
Die “Fledermaus” gilt auf der Bühne als das vielleicht schwierigste Stück neben der “Zauberflöte”. Warum?
Weil der Text sehr wichtig ist. Man muss ihn verstehen können. Auf den richtigen Geist der Sache, die richtige Stimmung kommt es an. Das Stück ist sehr charmant und amüsant, aber zugleich von leichter Aggressivität. Natürlich ist die Bosheit der „Fledermaus“ in einen süßen Wiener Topfenstrudel verbacken. Muss man es können.
Damals in Salzburg, mit einem österreichischen Orchester, wurde Ihnen ein zu französischer Tonfall vorgehalten. Jetzt dirigieren Sie ein französisches Orchester. Umso österreichischer?
Ich werde Ihnen was verraten: In meinen Adern fließt kein Tropfen französisches Blut. Meine Großmutter war Wienerin, ein Großvater stammte aus dem heutigen Tschechien. Andere Vorfahren kommen aus Polen. Ich habe bei Johann Strauß immer versucht so wienerisch wie möglich zu dirigieren. Nur mit der Sprache, da hapert es.
Johann Strauß litt unter Höhenangst. Er ließ sich, als er Johannes Brahms in Baden-Baden besuchte, zu dessen Haus auf einem Felsen mit verbundenen Augen führen – und balancierte rückwärts wieder runter. Ist es Zufall, dass Strauß‘ Musik auf flachem Tanzboden spielt?
Gute Frage. Man müsste vielleicht berücksichtigen, dass die Tanzböden damals erhöht waren, und auch nicht ganz flach wie heute. Im Übrigen schaue ich auch nicht so gerne runter. Außer beim Reiten – ich bin passionierter Reitsport-Fan. Dabei bevorzuge ich ausgerechnet die höchsten und größten Pferde. Sie können mir nicht hoch genug sein. Dann fühle ich mich… wie der König der Welt.
Der zentrale Austragungsort der Werke von Johann Strauß ist das Wiener Neujahrskonzert. Träumen Sie davon, es einmal zu dirigieren?
Ich kann es nicht leugnen. Demnächst dirigiere ich die Wiener Philharmoniker bei einem anderen Konzert und kann mich der Vorstellung kaum entziehen, dass dies ein erster Schritt dazu sein könnte. Es wäre freilich ein Wunder.
Barock-Meister wie Sie gibt es viele. Dirigenten aber, die das romantische Repertoire so dirigieren wie Sie, gibt es fast nirgendwo. Wie machen Sie das?
Aus dem Bauch heraus. Ich bin ein sehr instinktiver Musiker. Ich denke gern über das Romantische in den Geschichten nach. Ich glaube, dass es riesige Unterschiede gibt zwischen Meyerbeer, Wagner, Gounod und Johann Strauß. Ich komme von der Musik Glucks her, die ich für einen Wendepunkt in der Musikgeschichte halte. Er ist mein Fixpunkt und regelmäßigster Gefährte.
Ihr Vater war ein bekannter Kinderarzt, Ihr Großvater ein berühmter Psychiater. Sind Sie selber, wenn Sie dirigieren, auch Psychologe?
Sicherlich. Wir alle sind es. Die Frage wäre, ob wir auch gute Psychologen sind. Mit Sängerinnen und Sängern etwa kann man als Dirigent nicht zusammenarbeiten, ohne zugleich psychologisch auf sie einzugehen. Wir verstecken, als Künstler, unsere Zweifel und unsere Ängste. Sie sind ein Mittel der Interpretation. Trotzdem kommt es, würde ich sagen, darauf an, sie gut zu verbergen.
Die divenhaftesten Persönlichkeiten der Musikwelt heute finden sich grundsätzlich in der Alten Musik. Wie ist das nur möglich?
Ich selber gelte als schwierig. Komme aber mit deutschen Orchestern sehr gut klar. Mein Vorbild war der Dirigent Nikolaus Harnoncourt, ein sehr besonderer, teilweise auch exzentrischer Mensch. Allerdings nicht schwierig, dazu war er zu rücksichtsvoll und liebenswürdig. Sein Magnetismus kam daher, dass er so menschlich war. Wir Dirigenten der Alten Musik müssen sehr klar sein, weil wir nicht immer sehr klar in unserer Gestik sind. Die meisten von uns kommen von einem Instrument her und wurden als Dirigenten nicht groß ausgebildet. Ich kann nicht gut schlagen, aber ich kann mich relativ klar auszudrücken. Das kann als schwierig erscheinen. Doch ich kriege immer, was ich will.
Auf Ihrer Homepage ist fast jedes Werk aufgelistet, das Sie im Repertoire haben. Was würden Sie niemals dirigieren?
Ich traue mich nicht an die großen Werke Wagners, für die ich Christian Thielemann bewundere. Auch Schönberg und Berg machen andere besser. Mit anderen Worten: Ich will meine eigenen Fehler machen. Niemals dirigieren würde ich Olivier Messiaens „Saint François d’Assise“. Einmal habe ich die Partitur aufgeschlagen – und sie nach zwei Sekunden wieder zugeklappt. Zu viele Noten. Ähnlich wie bei Strawinskys „Le Sacre du printemps“.
Wann ist die Arbeit für Sie vorbei? Wenn der letzte Takt verklungen ist, wenn Sie die Bühne verlassen – oder wenn Sie sich zur Belohnung ein Glas Champagner gönnen?
Sie ist nie vorbei. Das liegt in meinem Fall auch daran, dass ich von Melodien, Klängen und ganzen Phrasen verfolgt werde. Sogar die Taktzahlen kehren zurück. Fürchterlich. Einige Kollegen lassen die Stücke dann etwas ruhen. Mein Problem: Ich kann nicht gut loslassen. Ich kann einfach nichts beenden.
Wann schlafen Sie besser: Nach einer gelungen oder nach einer misslungenen Aufführung?
Ich schlafe immer schlecht. Es wird auch im Alter immer ärger. Manchmal nehme ich eine Pille. Dann ist der Hangover so schlimm, dass ich aussehe wie eine ägyptische Mumie. Einziger Ausweg: Ich bin Kaffeetrinker.
Sie sind einer der wenigen Dirigenten, die nie ganz schlank waren. Hat das Auswirkungen auf Ihr Dirigieren?
Erstaunlich, das bin ich noch nie gefragt worden. Ich glaube schon, dass es Auswirkungen hat. Ich bewege mich mehr! Es fühlt sich für mich fast so an wie beim Schwimmen. Was ich gleichfalls sehr leidenschaftlich tue. Wenn ich einen Kollegen wie Leif Segerstam betrachte (Anm.: ein übergewichtiger finnischer Dirigent), erkenne ich mich wieder. Auch er bewegt sich rund und viel.