Der türkische Pianist und Komponist Fazil Say ist dem Musikfest Bremen schon lange verbunden. Als Interpret sowieso, 2014 wurde zudem seine Ballade "Gezi-Park 3" uraufgeführt, 2019 spielte Martin Grubinger Says Schlagzeugkonzert. Says Sinfonie Nr. 5 erlebte am Sonntag ihre Uraufführung durch die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen - und als Auftragswerk des Musikfests, geplant für 2020. Corona sorgte für eine Verschiebung in dieses Jahr.
Und dadurch für eine Schärfung der inhaltlichen wie musikalischen Konturen. Say, von jeher ein wacher politischer Mensch, der nicht davor zurückschreckt, sich mit dem Erdogan-Regime anzulegen, spiegelt gleich mehrere Krisen in seiner dreisätzigen Sinfonie. Die führt, anders als ihre vier Vorgängerinnen, keinen Titel, sondern muss sich mit der Ziffer begnügen. Am Pult der Kammerphilharmoniker stand die 27 Jahre junge italienisch-türkische Dirigentin Nil Venditti, und sie interpretierte Says assoziativ gestaltete Musik auf atemberaubend intensive Art. Nervöse, ungebändigte Energie wechselte sich ab mit Nachdenklichkeit und Schmerz. Say verquickt wie immer in seinen Werken Elemente der orientalischen mit der westlichen Musiktradition, bezieht Geräusche ein und immer wieder die große sinfonische Geste.
Den ersten Satz, "Revolts & Longings" (Umbrüche und Sehnsucht) überschrieben, prägen die Themen Corona und der Krieg in der Ukraine, mithin das Leben, das aus den Fugen geraten ist. Treibende Rhythmen gleich zu Beginn, scharfe Brüche zwischen den Themen, die sich in der Percussion auch mal überlagern. Doch auch impressionistische Lautmalerei, Anklänge an Jazz und türkische Volksmusik fügt Say zusammen, setzt seine typischen kommentierenden disharmonischen Akzente.
Der zweite Satz, "Elegie", ist eine Klage über ein Pogrom an nicht-muslimischen Bewohnern Ankaras und Istanbuls im Jahr 1955, und natürlich auch ein Kommentar zur heutigen nationalistischen Stimmung in der Türkei. Geräusche spielen eine große Rolle, die Streicher imitieren klopfend die Regentropfen, die am Morgen des Pogromtags fielen, die Melodie in Holzbläsern und Streichern, mit Einwürfen auch vom Vibrafon, ist klagend, die Grundstimmung nervös. "Tree of Life" (Baum des Lebens) liegt ein volkstümlicher Tanzrhythmus (Aksak) zugrunde, ein beinahe überschäumendes melodisches Motiv wird kontrastiert mit einem melancholischen Nebenthema in den Holzbläsern. Großer Jubel für die Dirigentin, das Orchester und Fazil Say.
Kristallklarer Ton
Dabei hatte sich das Publikum schon vor der Pause heiße Hände erklatscht. Der Grund: Die junge japanische Geigerin Moné Hattori, die das Violinkonzert D-Dur von Pjotr Iljitsch Tschaikowski meisterte, indem sie sich tief in das technisch hochkomplexe Werk versenkte. Ohne dabei allerdings jemals die Kontrolle zu verlieren. In einer Mischung aus fast schneidend scharf angegangenen und stark gefühlvollen Passagen harmonierte Hattori mit kristallklarem Ton perfekt mit den formidabel begleitenden Kammerphilharmonikern. Die hatten zuvor schon das Auditorium wachgeküsst mit einer schwung- und humorvollen Rossini-Ouvertüre (zu "La scala di seta"). Viel mehr sehen und hören möchte man zudem von der lässig-souveränen und zudem sehr witzigen Nil Venditti. Unbedingt.