Für manchen Schauspieler ist der Blick ins Publikum ein Blick in den Abgrund. Das gilt ganz bestimmt für Viktor: Der erfolglose Mime mit dem Charme eines Oberlehrers dreht allenfalls noch Reklamefilmchen für Pillen gegen Reizdarm und Harndrang – als Kijimea-Gesicht vor der "Tagesschau". Seine Frau hat ihn auch längst verlassen. Da steht Viktor nun, während bei ihr unten eine Silvester-Kostümparty tobt, an der Flachdachkante eines Bremer Hochhauses und möchte sich hinabstürzen. Auf dem Theaterschiff trennt ihn zum Glück nur ein schmales Treppchen mit zwei Backsteinstufen vom tiefen Fall. Für die 14 Stockwerke dazwischen genügt ein wenig Fantasie.
Natürlich springt Viktor nicht. "Over the Top" ist eine Komödie so voller Lebensfreude, dass trübe Gedanken in gut zwei Stunden gründlich weggeblasen werden. Die Inszenierung von Fabian Joel Walter hat Tempo, die vier hinreißenden Akteure – famose Musicalstimmen und Tänzer – haben Klasse, und dann heben auch noch 14 englischsprachige Ohrwürmer aus den 1970er-Jahren die Stimmung.
Die Autoren Tanja Krauth und Michael Fajgel, Chef des Theaters im Centrum (tic) in Kassel, haben eine übersichtliche, aber wirkungsvolle Vorlage geschaffen. Am Silvesterabend treffen sich auf dem Dach vier Leute, die vor etwas davonlaufen möchten. Alle stehen irgendwie mit der Party im Haus in Verbindung, weshalb sich die Fäden ihrer Probleme bei Nudelsalat und Whiskey immer enger verknüpfen.
Den Anfang macht Marian. Der "Gaudibursch" der Party, der Alleinunterhalter, hat sich im Wintergarten auf dem Dach seine Garderobe eingerichtet und probt noch mal, beweglich auch mit dem Hintern, seinen Hüftschwung. Stefan Reil, ein charmanter Kerl mit Zahnpasta-Lächeln, bricht sofort das Eis und macht selbst noch unter einer unmöglichen John-Travolta-Perücke eine gute Figur. Aber Marian ist beziehungsgeschädigt: Mit Frauen möchte er so schnell nichts mehr anfangen.
Ebenbürtige Powerfrau
Wo das "Saturday Night Fever" wallt, ist indes Olivia Newton-John nicht weit: Die blonde Nicole in hautenger schwarzer Lederkluft (Kostüme: Lilli Schakinnis) fühlt sich bei Marian bald gut aufgehoben – Tanja Müller erweist sich stimmlich als ebenbürtige Powerfrau. Nicoles Problem: Auf der Party wollte sie ihrem italienischen Zumba-Trainer Umberto näherkommen, doch ihr Ex-Freund Dirk, der von dem "Ex" noch gar nichts weiß, taucht ebenfalls dort auf. Also Flucht aufs Dach. Dort hält Nicole erst mal den verwirrten Viktor von Dummheiten ab, nur seine Lederjacke segelt in die Tiefe. "You leave me now": Wenn Lutz Standop diesen Song anstimmt, ahnt man bereits, dass hinter der Fassade des biederen Schauspielers mit der Riesenbrille ein ziemlich witziges Kaliber steckt.
Auch Viktor erhält sein Gegenüber, Katrin. Sie platzt mit grünem Gesicht und Besen als Hexe von Oz aus dem Musical "Wicked" durch die Bodentür. So tollpatschig sie den Männern mit dem Besen zusetzt, so mauerblümchenhaft erscheint sie abgeschminkt – eine Frau, die sich ihrem heimlich geliebten Mann nicht offenbaren mag. Kleiner Tipp: Er steht schon auf dem Dach, die Sache ist leicht durchschaubar. Es braucht dann noch ein "Pflicht oder Wahrheit"-Spielchen und ein paar kräftige Züge aus der Cannabis-Tüte, bis sich alle besser fühlen. Sabine Bönecker hat den vokalen Pfeffer, damit auch Katrin groß rauskommt ("Why do birds suddenly appear").
Viel Wortwitz und heiße Hits tragen über ein paar Längen und einen kurzen Mikrofonausfall locker hinweg. Mit "You're the One That I Want" (bei uns auch als "Die Wanne ist voll" bekannt) hüpfen Stefan Reil und Tanja Müller "u-hu-hu" in die Pause. Wenn zum Finale das Silvester-Feuerwerk über der Bremen-Silhouette funkelt, einigen sich alle auf die Botschaft "I will Survive". Um das Vergnügen perfekt zu machen, schunkelt ein Handpuppen-Waschbär mit.
Es springt also niemand von der Bühne, dafür aber das Publikum in die Höhe. Vergnüglicher kann man einen Regenabend an der Weser kaum verbringen. Man fragt sich nur, warum dieser Silvesterknaller nicht schon einen Monat früher gezündet wurde.