An der Premiere von Giacomo Puccinis Oper "La Bohème" im Theater Bremen ist die Bremer Tafel beteiligt. Wie kam es zu dieser Kooperation?
Ilse Stümpel: Im Februar sprach uns Chefdramaturgin Brigitte Heusinger an. In der Oper gehe es um vier Künstler, die in Armut leben. Hausregisseurin Alize Zandwijk wolle die Armut in ihrer Inszenierung ernstnehmen und das Publikum bitten, haltbare Lebensmittel mitzubringen, um damit das Bühnenbild zu bestücken. Am nächsten Tag könne die Tafel die Lebensmittel abholen und sie an Armutsbetroffene verteilen.
Das kam sicher sehr überraschend, oder?
Diese Idee ist wirklich einmalig. Es gibt 960 Tafeln in Deutschland, noch nie wurde eine von ihnen in der Oper gewürdigt. Ich gehe gern ins Theater und war von dieser Win-Win-Verzahnung gleich elektrisiert. Um unserem Vorstand von der Zusammenarbeit zu überzeugen, habe ich in der nächsten Sitzung einfach dieses wunderschöne Liebesduett von Mimi und Rodolfo aus dem ersten Akt vorgespielt – und da war es um sie geschehen. Sie haben natürlich alle Ja gesagt. Da nahm die Sache Fahrt auf.
Wie ging es dann weiter?
Frau Heusinger und Frau Zandwijk haben unseren Hauptsitz besucht, die zwei großen Lager in Hemelingen, das ist ja wie ein Supermarkt aufgemacht. Sie kamen bewusst zur Ausgabezeit und haben sich mit den Bedürftigen und Ehrenamtlichen unterhalten. Frau Zandwijk denkt sehr sozial, sie möchte mehr Menschlichkeit und Verantwortung von der Gesellschaft fordern. Ich vermute fast, die Oper wird bei ihr gar nicht in Paris, sondern in Bremen spielen.
Spielt jemand von der Tafel mit?
Nein, aber wir stellen 460 Klappkisten zur Verfügung: Zwei Kollegen nehmen die Lebensmittel im Foyer entgegen, packen sie und reichen sie ans Bühnenpersonal weiter. In der Pause verteilen wir unsere Flyer. Und einige Chormitglieder werden unsere Schürzen tragen.
Welche Lebensmittel sollen die Theaterbesucher denn mitbringen?
Alles, was nicht verderblich und gut transportierbar ist. Haltbare Produkte wie Nudeln, Reis, Cornflakes, Kaffee, Tee, Konserven oder Schokolade und andere Süßigkeiten.
Wie hilfreich ist diese Inszenierungsidee für Ihre Arbeit?
Wenn alle 800 Besucher etwas mitbringen, wird es enorm hilfreich sein. Denn was wir von den 160 Supermärkten und Bäckereien an Überhang bekommen, die wir jeden Morgen mit fünf Fahrzeugen anfahren, reicht oft nicht mehr aus. Die Bremer Tafel mit ihren fünf Ausgabestellen – neben dem Hauptsitz in Hemelingen noch in Burg, Huchting, Obervieland und in der Vahr – erreicht etwa 7000 Menschen in Bremen, darunter 2500 Familien und 1500 Kinder. Ein Viertel sind Senioren, die von ihrer Rente nicht leben können, unter den übrigen sind viele Bürgergeldempfänger und Geflüchtete, 30 Prozent unserer Besucher kommen aus der Ukraine. Außerdem unterstützen wir soziale Einrichtungen wie Suppenküchen und Drogencafés sowie Schüler, die zu Hause kein Frühstück und Pausenbrot erhalten. Da kommen wir an unsere Grenzen, wir haben nicht immer genug Ware zum Verteilen.
Wo entdecken Sie in Puccinis "La Bohème" Ihre Themen?
Armut bezeichnet einen Mangel an lebensnotwendigen Grundlagen: Nahrung, Wohnen, Gesundheit. Diese drei Dinge werden in der Oper thematisiert. Es geht um die Kunst zu überleben. Auch viele unserer Besucher sind krank und leben ganz bescheiden in kleinen Wohnungen. Alize Zandwijk wird aufrütteln wollen, sie wird Wert darauf legen, dass die Besucher Mitgefühl entwickeln – ohne Sozialromantik.