Das geht natürlich eigentlich gar nicht. Ein Roman, fast 1000 Seiten dick, dessen Autor nicht stringent eine Geschichte erzählt, sondern immer wieder abschweift in wissenschaftliche oder philosophische Exkurse. Das Ganze transportiert auf eine Bühne? Schwer vorstellbar. Man kann Herman Melvilles Roman "Moby Dick", 1851 erschienen, natürlich schlicht auf die Geschichte des wahnsinnigen Kapitäns Ahab reduzieren, der einen Rachefeldzug gegen einen weißen Monsterwal führt. So leicht hat es sich die bekannteste Verfilmung des Stoffs mit Gregory Peck in der Hauptrolle des Ahab 1956 gemacht. Ein Hollywoodmärchen mit Gruselfaktor. Aber durchaus unterhaltsam.
Oder man geht so vor wie am Theater Bremen. "Moby Dick oder Der Wal" heißt die erste Premiere der Spielzeit am Freitagabend. Das Schauspielhaus ist ausverkauft, man sitzt ohne Abstand zu den Sitznachbarn, was mittlerweile an sich schon ein Erlebnis ist. Auf der Bühne: Nadine Geyersbach, ihr Bruder Denis Geyersbach und der Musiker Beppe Costa. Die schauspielenden Geschwister Geyersbach haben das Konzept für den Abend erdacht und gemeinsam mit Regisseurin Alize Zandwijk in eine Form gebracht. Haben sich den Roman vorgenommen und ihn zerlegt, um einzelne Teile zu einer Collage mit Musik zusammenzusetzen. Beppe Costa hat die Lieder dazu komponiert.
Urgewalt der Natur
Gedacht ist diese Collage vom Bühnenbild her und entstanden ist so eine visualisierte Assoziationskette, die dem Publikum sehr viel aus und über den Roman vermittelt. Die zweite wichtige Ebene ist die Musik. Beppe Costa singt mal mehr mal weniger nah am Shanty gebaute Lieder über die immer komplizierte Beziehung zwischen dem Menschen und der Urgewalt der Natur. Etwas, das der Mensch bewundert, aber auch nicht nur zu beherrschen, sondern geradezu zu überwältigen trachtet. Doch manchmal ist es eben auch umgekehrt. Mittlerweile eigentlich immer öfter, auch das zieht sich wie ein roter Faden durch die 80-minütige Inszenierung.
Nadine und Denis Geyersbach kreieren derweil neben Costas kleinem Musiker-Podest Bilder von poetisch-skurriler Schönheit. Da werden schwarze Papierbahnen zu einem wogenden Ozean, in dem verzweifelte Matrosen um den letzten Schluck Wasser und ihr Leben kämpfen. Staunen macht ein Ausflug in die Tiefsee: Mit Mitteln des Schwarzlichttheaters leuchten Quallen, Spinnen und allerlei anderes Getier. Doch aus der Eigentümlichkeit dieser fantastischen (und übrigens immer noch nur zu Bruchteilen erforschten) Welt gilt es bald wieder aufzutauchen – und sich dem Alltag zu stellen. Und der heißt für die Matrosen: Wale töten.
Die ganze Grausamkeit der Jagd kann man sehr eindringlich in einem Aquarium nachstellen. Nadine Geyersbach lässt Holzschiffchen zu Wasser, die – "da bläst er!" – kleinen schwarzen Luftballons nachstellen. Die sind mit roter Farbe gefüllt, sodass nach einem wilden Harpunen-Gemetzel eine blutige Brühe im Glaskasten schwappt. Schuppdiwupp leergefischt, das ganze Meer, damals wie heute.
Und für was? Für den Speck, der viel Geld verspricht. Die schwarzen Papierbahnen sind inzwischen zu einem voluminösen Walkörper zusammengerollt worden, und Nadine Geyersbach als Walfängerin schwelgt genießerisch in Zahlen und Fakten: Wie man die Haut löst und den Kopf des Tieres absäbelt. Und den größten Teil des mächtigen Körpers ins Meer zurück schubst, wo sich Haie und Raubvögel daran gütlich tun.
Furioses Solo
Doch Ahab, der Kapitän der Pequod, will nicht nur ran an den Speck, will mehr als nur Ausbeutung und ständigen Fortschritt. Ihn hat die Kampf Mensch gegen Kreatur innerlich zerstört. Einst hat ihm ein mächtiger weißer Wal ein Bein abgerissen – nun geht er über die Leichen seiner Matrosen für die fixe Idee, es einem Tier wie Moby Dick heimzuzahlen. Nadine Geyersbach gibt diesen hasserfüllten Mann in einem furiosen, beinahe orgiastischen Solo, in dem sie sich auf einem seltsamen Fantasiegefährt auf der Bühne wenig fortbewegt, aber heftig abstrampelt. Ein passendes Bild für das völlig Irre von Ahabs Mission.
Denis Geyersbach erzählt dann das Finale der Geschichte, das auch ohne weitere Illustration schaurig genug ist. Und dann ist er auf einmal da, der große weiße Wal. Nimmt die ganze Bühne ein. In all seiner machtvollen Schönheit.