Tobias Schlegl: Eigentlich war das nicht geplant. Aber in der Mitte meiner Ausbildung hatte ich eine Art Zusammenbruch. Schreiben wurde für mich eine Therapieform. Es hat mir geholfen, bestimmte Einsätze zu verarbeiten. Irgendwann kam mir dann die Idee, in einem Buch die düstere Variante durchzuspielen. Bei mir ist alles gutgegangen, aber bei vielen anderen ist das leider nicht so. Wie wäre es gewesen, wenn mir keiner geholfen hätte? Das Ergebnis ist der Leidensweg meines Protagonisten Kim.
Kim entwickelt nach einem Einsatz eine posttraumatische Belastungsstörung. Was ist Ihnen damals widerfahren?Anders als bei Kim war es bei mir nicht ein Schlüsselmoment, sondern die Schlagzahl von Einsätzen. Ich hatte über einen Zeitraum von ein paar Tagen mehrere, die nicht gut gelaufen sind – darunter einen Herz-Kreislauf-Stillstand, bei dem der Patient im Rettungswagen gestorben ist. Danach konnte ich nicht mehr schlafen, und mir ging es wirklich schlecht. Ein Kollege hat das zum Glück erkannt und das Kriseninterventionsteam alarmiert. Das hat mir sehr geholfen.
Es ist vier Jahre her, dass Sie Ihren TV-Job aufgegeben haben, weil Sie das Bedürfnis hatten, etwas gesellschaftlich Relevantes zu machen. Was war der Auslöser?Der Wunsch war schon länger da, er ist nur einfach immer mehr gewachsen. Kurz vor meinem 40. Geburtstag dachte ich: Wenn ich es jetzt nicht mache, fehlt mir später vielleicht der Mut. Deshalb habe ich beschlossen, meinen Job bei der ZDF-Show „Aspekte“ zu kündigen.
Haben die Leute in Ihrem Umfeld Sie damals verstanden?Teilweise haben sie mich schon für verrückt erklärt. Ich hätte ja auch einfach nebenbei ein Ehrenamt ausüben können – aber das wäre mir nicht konsequent genug gewesen. Ich wollte es richtig machen. Wenn, dann wollte ich auch Chef sein, also Chef auf dem Rettungswagen. In meinem Umfeld musste ich viel reden und erklären. Unser System ist ja nicht dafür gemacht, dass man in der Lebensmitte noch mal komplett von vorne anfängt, sich zum Lehrling macht und mit 800 bis 900 Euro brutto im Moment klarkommt. Das ging auch nur, weil ich vorher so gut verdient habe; ich hatte einen finanziellen Puffer für die drei Jahre.
Anders als Leute, die in der Lebensmitte davon träumen, ein Café am Ende der Welt aufzumachen oder Surflehrer zu werden, war mir schon klar, dass das so ungefähr der stressigste Job ist, den man sich aussuchen kann. Aber wie sehr einen bestimmte Einsätze mitnehmen, darauf kann man sich nicht vorbereiten. Wenn du dreimal hintereinander eine zwölfstündige Nachtschicht absolvierst, siehst du am Ende aus wie aus der Serie „The Walking Dead“.
In welchen Situationen sind Sie an Ihre Grenzen gekommen?Im Dienst funktioniert man. Ich konnte immer noch richtig handeln. Aber natürlich gibt es Einsätze, die einen emotional mitnehmen, weil man das Umfeld des Patienten, die Einsamkeit und die Traurigkeit sieht. Und das große Problem im Rettungsdienst ist die Schlagzahl der Einsätze.
Was muss sich im Gesundheitssystem ändern?Die zwei großen Schrauben, an denen die Politik drehen muss, sind fairere Löhne und weniger Arbeitsstunden. Wenn man eine Vollzeitstelle hat, sind das 200 Stunden im Monat – das ist zu viel. Zumal noch Überstunden dazukommen, weil die Personalnot genau wie in der Pflege auch im Rettungsdienst groß ist. Hinzu kommt die psychologische Belastung. Wir müssen den Job attraktiver machen, damit die Leute länger durchhalten und nicht nach ein paar Jahren wieder verschwinden. Wie gerne würde ich diesen Job jungen Menschen vorbehaltlos empfehlen – denn eigentlich ist es ein toller Beruf.
Angetreten waren Sie mit dem Ziel zu helfen. Hat sich dieser Wunsch erfüllt?Das ist ja das Tolle. Wir haben jetzt viel von den Schattenseiten gesprochen. Aber ich konnte wirklich helfen. Der erste Einsatz, den ich im Buch beschreibe, ist biografisch. Damals musste ein junger Mann auf der Straße reanimiert werden. Er hat später explizit darum gebeten, die Leute kennenzulernen, die ihn gerettet haben. Ich muss nicht von jedem ein Dankeschön hören, denn das ist ja unser Job. Trotzdem war es ein sehr besonderer Moment.
Inwiefern haben die vergangenen Jahre Sie persönlich verändert?Diese Zeit hat mich extrem geformt. Im Alltag sieht man ja nur funktionierende Menschen. Die Kranken oder Kaputten sieht man nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass das in unserer Gesellschaft verdrängt wird. Generell das Thema Tod. Ich habe gelernt, damit umzugehen. Und ich habe gemerkt, wie viel Einsamkeit es in der Welt gibt. Man öffnet so viele Türen und taucht in so viele Lebenswelten ein, von der Prunkvilla bis zur Sozialwohnung sieht man alle Gesellschaftsschichten und Menschentypen. Das macht etwas mit einem. In den vergangenen drei Jahren habe ich so viel gelernt wie manche vielleicht im ganzen Leben nicht.
Empfinden Sie mehr Dankbarkeit als vorher, wenn Sie morgens gesund aufwachen?Das sowieso. Das kennt ja jeder, dass man sich vornimmt, dankbarer dafür zu sein, dass man gesund ist. Wenn man am nächsten Tag dann doch wieder früh aufstehen muss und in den Alltag eintaucht, vergisst man das schnell. Wenn man ständig von Kranken umgeben ist, hat man eine wahnsinnige Sehnsucht, das Leben zu feiern. Deswegen macht der Protagonist in meinem Roman diesen Roadtrip ans Meer. Solche Momente sind echt kostbar.
Das Klatschen habe ich als aufrichtig empfunden. Die Leute wollten etwas zurückgeben, waren sich unsicher, und dann wurde geklatscht. Das war schon eine Art Anerkennung. Traurig finde ich, dass politisch nicht mehr passiert ist. Es gibt Bonus-Zahlungen für Angestellte in der Altenpflege, aber nicht für die im Krankenhaus oder im Rettungsdienst.
Wie haben Sie die Pandemie erlebt?Die Hochzeit von Corona fiel genau in die Zeit, in der ich mein Buch fertiggestellt habe. Ich war zuhause, hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen und dachte, ich muss wieder in den Rettungswagen! Im Notfall hätte ich bereitgestanden, aber tatsächlich wurden die Einsätze im Rettungsdienst zu der Zeit weniger, weil die Leute Angst hatten, die 112 zu wählen. Das hat sich wieder gedreht. Ich bin wieder im Dienst und hatte schon ordentlich Corona-Alarm.
Das Gespräch führte Nadine Wenzlick.Tobias Schlegl
wurde 1977 in Köln geboren und war Moderator für den Musik-TV-Sender Viva, beim Satiremagazin „extra 3“ und bei der ZDF-Sendung „Aspekte“. 2016 machte er eine Ausbildung zum Notfallsanitäter; inzwischen arbeitet er als Moderator und als Sanitäter.
Weitere Informationen
Tobias Schlegl: Schockraum. Piper, München. 288 Seiten, 22 €.