Lange Zeit haben viele Deutsche die Menschen, die die Bundesrepublik vor mehr als 60 Jahren ins Land holte, um Arbeit zu erledigen, vor allem als notwendiges Übel empfunden. Sie kamen aus der Türkei, aus Griechenland, aus Spanien, Italien, Portugal und dem ehemaligen Jugoslawien. Sie gruben Kohle aus im Ruhrgebiet oder standen am Band bei Siemens oder BMW. Oder bei Hachez. Sie wurden zu Bremer Vulkanesen. Kollegen und Kolleginnen. Was die Menschen in ihrer Freizeit machten, wie sie wohnten, allein oder mit ihrer Familie, welche Wünsche sie hatten – das war lange ein sehr großer weißer Fleck in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik.
Langsam ändert sich etwas. Das Einwanderungsland Deutschland beginnt, sich für die Biografien derjenigen zu interessieren, die seit mehreren Generationen hier leben, Steuern zahlen, zu Freunden und Familienmitgliedern geworden sind, sich für die Gesellschaft engagieren. In Bremen hat 2021 die Ausstellung "Hayat yollari - Lebenswege" im Focke-Museum einen so konzentrierten wie spannenden Blick ermöglicht. Dabei zeigte sich auch: Das Klischee vom Gastarbeiter als Mann aus der Türkei, der für seine Familie Geld verdienen wollte, ist falsch. Es kamen auch Gastarbeiterinnen.
Von dieser verdienstvollen Ausstellung und den integrierten Video-Interviews von Orhan Calisir und Dirk Meißner hat sich die Sängerin Nihan Devecioglu zu einem Liederabend am Theater Bremen inspirieren lassen, der am Freitag Premiere feierte: "Asiklar - die Liebenden". Als Asiklar werden in der Türkei seit dem 16. Jahrhundert reisende Minnesänger und Geschichtenerzähler bezeichnet. Sie singen von Liebe, aber auch von sozialen Missständen und politischen Auseinandersetzungen, und sie begleiten sich dabei auf der Langhalslaute Saz.
Die Saz und diverse andere Gitarren werden von Matti Weber gespielt; der junge Musiker ist inzwischen eine echte Bank, was die kreative musikalische Gestaltung von Produktionen am Theater angeht. Bei "Asiklar" mischt er sich zudem als verschmitzter Erzähler in die Geschichten von vier Frauen ein, die in den 1960er-Jahren nach Deutschland eingewandert sind: Feriha Demirtas, Yildiz Sarac-Fritsche, Emine Ulusen und Makbule Kurnaz. Sie stehen im Mittelpunkt dieser 100 Minuten auf Deutsch und Türkisch, sind präsent in Video-Interviews, die groß auf weiße Stoffbahnen projiziert werden. Viel mehr braucht dieser Abend an Bühnenbild nicht, um zu wirken. Nihan Devegioglu tritt dazu im schlichten schwarzen Arbeitsoverall auf.
Auch sie selbst sei in zwei Welten aufgewachsen, erzählt sie zu Beginn: in Istanbul und in München. Bei der Arbeit an "Asiklar" habe sie darüber nachgedacht, ob sie sich "diesen Raum nehmen darf, als Türkin an einem deutschen Theater?" Warum nicht? möchte man zurückfragen, und weiß doch, auf welchen tief sitzenden Rassismus Nihan Devecioglu damit anspielt. Die Ressentiments gegenüber den Fremden kommen auch in den Lebensgeschichten der vier älteren Damen vor, alle berichten von karg ausgestatteten Wohnheimen mit Metallbetten, dem Gefühl, nicht wirklich erwünscht zu sein. Den Problemen bei der Wohnungssuche, was dazu führte, dass die Kinder bei den Großeltern in der Türkei untergebracht werden mussten. Sie erzählen von dem Lohn, die geringer ausfiel als bei ihren deutschen Kollegen und schlechteren Aufstiegschancen trotz gleicher Qualifizierung.
Doch alle haben sich durchgebissen, alle sind geblieben. "Ich bin nun weder von hier noch von dort", sagt Feriha Demirtas, aber auch: "Ich bin sehr glücklich". Immer schwingt mit, dass das Leben in der Türkei vielleicht nicht begleitet von Heimweh und Einsamkeit gewesen wäre. Aber auf andere Weise eingeschränkt. Yildiz Sarac-Fritsche, die mit 23 Jahren als geschiedene Mutter einer Tochter nach Deutschland ging, sagt: "Für mich war es eine Flucht. Eine Flucht vor der Unterdrückung der männerdominierten Gesellschaft in der Türkei". Die aus Anatolien stammende Makbule Kurnaz fürchtete, verheiratet zu werden.
Nihan Devecioglu und Matti Weber reichern die Lebensgeschichten durch Volkslieder an, türkische, griechische, durch Weisen vom Balkan. Ihrem auch mal experimentellen, immer ungemein klaren und kräftigen Gesang hört man sowieso gerne zu; manchmal tanzt Nihan Devecioglu dazu. Es ist ein wunderbarer, lehrreicher, berührender Abend, Dokumentartheater für das 21. Jahrhundert. Zum Schluss singt das Publikum bei "Uzun ince bir yoldayim" (Ich bin auf einem langen, schmalen Weg) von Asik Veysel mit. Auf den Leinwänden singen die vier älteren Damen. Drei waren bei der Premiere zugegen und wurden vom Publikum genauso gefeiert wie Matti Weber, Nihan Devecioglu und das gesamte Team.