Frau Tufts, in "Hello, Dolly!" spielen Sie eine Heiratsvermittlerin. Das klingt nach einem ziemlich altertümlichen Beruf in Zeiten von Datings-Apps, oder?
Gayle Tufts: Als Beruf ist das sicher so, aber die Sehnsucht der Menschen nach einem Partner ist nach wie vor aktuell. Wir haben das Musical tatsächlich ein bisschen angepasst. Gleich zu Beginn haben wir den Text sozusagen upgedatet, und da sage ich dann genau das: Ich bin nicht Tinder, ich bin nicht Grindr, ich bin nicht Parship. Ich bin Dolly Levi, ein Mensch!
Was macht Dolly Levi denn als Person aus?
Sie ist eine Witwe, die auf der Suche ist; sie möchte wieder am Leben teilnehmen. Sie hat ihren Mann geliebt, und er fehlt ihr. Aber sie hat genug davon, nur zu trauern und zu Hause zu bleiben. Es tut ihr gut, wieder menschliche Gesellschaft zu haben.
Sie ist eine Macherin.
Sie ist sehr selbstständig, und sie will nicht auf ein Happy End warten. Sie kreiert Happy Ends. Das heißt nicht, dass damit wirklich alles gut ist, das weiß man ja aus eigener Erfahrung und wenn man Paare um sich herum beobachtet. Wir versuchen, das mit einem Augenzwinkern zu erzählen, aber man darf nicht vergessen: "Hello, Dolly!" ist auch einfach ein sehr romantisches Stück ...
Ist es diese Vielfältigkeit, die Sie an dieser Rolle reizt?
Ja, ich bin, nachdem wir fast fertig sind mit den Proben, wirklich überrascht, wie gut dieses Stück auch handwerklich ist. Die Musik ist eine Wucht. Alle kennen ja den Titelsong, aber der ist gar nicht der Höhepunkt des Musicals.
Sondern?
Es gibt ein wunderbares Lied, das ich singen darf: "Ich lass die Musik nicht vorbei". Das sprüht vor Lebensmut. Ian Spinetti und Ulrike Mayer singen "Es kann nur ein Moment sein" - da bekomme ich Gänsehaut. Die Botschaft ist so toll: Ein Moment kann dein Leben verändern. Wir neigen oft dazu, das gleich negativ zu sehen, also, dass alles vorbei sein kann in einem Moment. Aber es braucht auch nur einen Moment, damit etwas schönes Neues beginnen kann, damit eine Chance sich auftut.
Haben Sie gleich zugesagt, als die Anfrage kam?
Sofort. Es gibt eine Vorgeschichte: Frank Hilbrich (der Regisseur, Anm. d. Red.) wollte mich vor dem Lockdown in einer Operette in Graz besetzen, das ging bei mir aus Termingründen nicht. Aber ich war interessiert an einer Zusammenarbeit mit Frank, er ist "good crazy", er hat einen spannenden anderen Blick auf die Dinge.
Da sind wir auch schon beim Thema Männer...
...au ja.
Die männliche Hauptrolle im Stück, der pedantische, schlecht gelaunte Kaufmann Horace Vandergelder, ist nun nicht gerade ein Hauptgewinn. Warum will Ihre Dolly ihn unbedingt für sich haben?
Weil er bei uns von dem wunderbaren Christoph Heinrich gespielt wird! Das ist auf jeden Fall ein Argument. Das zweite, sehr ernsthafte ist das, was Frank Hilbrich auch entdeckt hat in dem Stück: Da ist viel Einsamkeit. Dolly ist einsam, Vandergelder ist einsam - wie viele von uns. Gerade die vergangenen zweieinhalb Jahre, die von der Pandemie und dem Gebot, zu Hause zu bleiben, geprägt waren, haben das verstärkt. Das können wir nicht einfach wegschieben. Bei Dolly und Vandergelder gibt es daher eine Art Seelenverwandtschaft. Aber es ist auch eine leise Kapitalismuskritik in dem Stück versteckt: Vandergelder ist zwar Millionär, hat aber trotzdem Probleme. Und er ist ausgebrannt; er braucht einen neuen Impuls. Das sieht Dolly sehr genau.
Also eigentlich ist es kein Happy End, sondern ein offenes Ende.
Es ist ein bisschen wie bei Billy Wilder in "Manche mögen's heiß", wenn Jack Lemmon dem verliebten Millionär Osgood zum Schluss entnervt bekennt, dass er sich nur als Frau verkleidet hat und eigentlich ein Mann ist. Und Osgood sagt nur: "Niemand ist perfekt".
Sie stammen aus dem Mutterland des Musicals. Sind Sie Fan?
Oh ja. Wobei das Musical in den USA einen ganz anderen Stellenwert hat als hier. Es sind musikalische Komödien, musical comedys, die vom Schauspiel her gedacht werden, auch die Ausbildung ist so organisiert. Viele Musicals greifen gesellschaftlich relevante Themen auf, und das Handwerk wird großgeschrieben. Das musikalische und komödiantische Timing muss stimmen, denken Sie nur an "West Side Story", das auch noch einen tragischen Aspekt hat. In Deutschland denkt man beim Begriff Musical gleich an Andrew Llyod Webber oder Disney und sortiert das in die Schublade Schlager ein.
Haben Sie ein Lieblingsmusical?
Ich habe zwei. Einmal einen Klassiker: "Anything goes" von Cole Porter und dann "Sunday in the Park with George" von Stephen Sondheim. Das handelt davon, wie man Kunst macht. Ich bin aber auch beeindruckt von "Dear Evan Hansen", da geht es um Teenagerselbstmorde und darum, wie Jugendliche sich in Social Media verlieren.
Das Gespräch führte Iris Hetscher.