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Interview mit Harro Zimmermann Zum 10. Todestag von Günter Grass: "Er spricht immer noch zu uns"

Zehn Jahre nach dem Tod von Günter Grass: Harro Zimmermann erinnert sich an den Schriftsteller. Wie präsent ist Grass heute noch? Ein Gespräch über das literarische Erbe und die politische Rolle von Grass.
12.04.2025, 05:00 Uhr
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Von Sebastian Loskant

Herr Zimmermann, vor zehn Jahren, am 13. April 2015, ist der Schriftsteller Günter Grass gestorben. Sie kannten ihn persönlich, welche Erinnerungen haben Sie an ihn?

Harro Zimmermann: Ich habe Grass 1988 auf einer Fachtagung zur Literaturkritik in Telgte kennengelernt, bei der Autoren aus entstehenden Werken lasen. Das war Grass’ uralte Idee: eine Vereinigung der Gelehrten, die sich gegenseitig kritisieren und dann gemeinsam zu politischen Themen äußern. Dort haben wir das erste Mal über sein Werk gesprochen, vor allem über die barocken Dichter, die in seiner Erzählung "Das Treffen in Telgte" von 1979 auftreten. Als Germanist konnte ich nur staunen, über welches Wissen der Mann verfügte; er konnte aus dem Ärmel Gedichte von Andreas Gryphius bis Friedrich von Logau zitieren. Diese Begegnung hat später zu der engen Kooperation bei Radio Bremen geführt.

Sie waren dort Kulturredakteur. Wie haben Sie Grass präsentiert?

Fast alle großen Romane hat er für Radio Bremen eingelesen. Die lagern heute im glanzvollen ARD-Schatz und sind auch über das weltweit singuläre Bremer Günter-Grass-Archiv mit seinen 4000 Mediendokumenten greifbar. Es waren jedes Mal respektvolle Begegnungen mit Grass, keine Freundschaft, aber eine schöne und immer anregende Beziehung. Sie führte zu dem gemeinsamen Buch "Werkstattgespräche".

Vor zwei Jahren haben Sie Grass eine dicke Biografie gewidmet. Wie präsent ist er denn heute noch?

Zehn Jahre nach seinem Tod ist eine Art Rezeptionsdelle entstanden. Es gab noch kurz nach seinem Tod einen Run auf seine Bücher, heute ist diese Welle weitgehend abgeebbt. Die Situation ist zwiespältig: Auf der einen Seite haben wir ein reges Interesse auf der wissenschaftlichen und publizistischen Ebene, es erscheinen immer noch Bücher und viele Aufsätze. Es tut sich auch eine Menge im Hinblick auf den 100. Geburtstag in zwei Jahren, die Bremer Grass-Stiftung ist daran rege beteiligt. Auf der anderen Seite, auf der Seite der Leseöffentlichkeit, ist Grass nicht mehr so gefragt. Was nicht heißt, dass er obsolet geworden wäre.

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Grass hat selbst darunter gelitten, dass all seine Werke an dem erfolgreichen Erstling "Die Blechtrommel" gemessen wurde, den er 1959 mit 31 Jahren veröffentlicht hat. Welche Titel werden überleben?

Mit seinem ungeheuren Erzähldebüt hat Grass Weltliteratur geschrieben, das ist eine unumstößliche Tatsache. Dass man nach dieser Marke alle weiteren Arbeiten beurteilt hat, ist nicht unüblich in der Literaturgeschichte. Goethe wurde auch immer am "Werther" gemessen. Die "Danziger Trilogie" mit der "Blechtrommel", "Katz und Maus" und "Hundejahre" wird weiter eine Rolle spielen. Grass, dieser bärbeißige Künstler und Intellektuelle, den man einmal das "Wappentier der Republik" genannt hat, wird bleiben, da bin ich mir sicher.

Was macht Grass so besonders?

Da ist zum einen diese gewaltige sprachliche Leistung eines Mannes, der ohne ausreichende Schulbildung quasi aus dem Nichts ein überragendes künstlerisches Werk geschaffen hat. Das bleibt als glanzvolles Erinnerungspotenzial. Zum anderen bleibt er in der Kombination von ästhetischer Existenz und politischem Eingriffswillen eine exzeptionelle Figur für die deutsche Bewusstseinsgeschichte. Als Intellektueller ist er im Nachkriegsdeutschland Vorbild geworden.

Was zeichnet Grass anderen klugen Köpfen seiner Zeit wie Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger oder Jürgen Habermas aus?

Grass hat den Intellektuellen, den Literaten in die Politik eingebracht und die Politik auf die Ebene der Literatur und der Ästhetik gezogen. In seiner Person haben sich Politik, Literatur und Kultur eng verwoben. Gucken Sie sich unsere heutige Expertokratie an – wo hat die Öffentlichkeit noch eine geistige Figur, die integrierende Bedeutung haben könnte? Eine singuläre Stimme, die der Gesellschaft Orientierung bietet? Diese Aura von Exzellenz findet man nicht mehr.

Grass hatte das Glück, für sich eine Identifikationsfigur wie Willy Brandt zu finden, der die Deutschen mit sich selbst versöhnen konnte. Für Brandt hat er Wahlkampf gemacht, Reden geschrieben. Als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, trat er 1982 in die SPD ein und 1992 wegen des Asylkompromisses wieder aus. Welcher Partei würde sich heute zugehörig fühlen?

Er würde dem Komplex SPD/Grüne sicher immer noch anhängen, bei aller Kritik, bei aller Distanzierung, aber mehr als autonome Stimme. Heute wäre er zweifellos ein wahnsinnig eloquenter Gegenspieler der Trumps, Erdogans und Netanjahus dieser Welt.

Literarisch wird Grass von vielen als "Vergangenheitsbewältiger" betrachtet. Was kann er uns für die Zukunft sagen?

Das Kunstwerk Grass kommt aus der tiefen Erschütterung über die totale Zerstörung der Zivilisation durch deutsche Schuld. Die hat ihn zeitlebens begleitet. Er war durch und durch von der Kriegserfahrung geprägt und sah das als große Hypothek für die Zukunft. Aber schon seine Lyrik nach der Danziger Trilogie ist völlig gegenwartsgeprägt. In "Örtlich betäubt" setzt er sich mit den 68ern auseinander, in "Die Rättin" mit der Nachrüstung. Man kann nicht sagen, dass er in der Geschichte versunken war. Dieses Werk redet noch zu uns.

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Den 68er-Protesten stand Grass wohlwollend, aber auch kritisch gegenüber. Er hat in Bezug auf deren Fanatismus sogar Parallelen zur NS-Zeit gezogen.

Er hat manches, das überzogen war, kritisiert. Aber er wollte die Re-Integration der kritischen Jugendlichen in die sozialliberale Kultur. Und er hat noch Jahre danach gesagt: Wir brauchen ein neues 68. Er nahm dieses Refreshing der 68er wahr und fand die spätere Bundesrepublik viel zu verkarstet. Angesichts der desaströsen Entwicklung der westlichen Demokratien würde er heute versuchen, Energien zu finden und für eine neue Form der Solidarisierung plädieren. Er wäre aufseiten derer, die ein kritisches Verhältnis gegenüber Russland und den USA haben. Bei der Annexion der Krim 2014 hat er noch gewarnt, dass eine Pervertierung des Systems in Russland zu befürchten sei und dass die EU aktiv die politische Verständigung suchen müsse.

Woran liegt es, dass starke Persönlichkeiten wie Grass rar geworden sind?

Die totale Diffusion von Öffentlichkeit führt heute dazu, dass der kulturelle Zugriff immer schwächer wird, weil sich Information nicht mehr verdichtet. Die Erfolge der AfD, der damit verbundene Elitenhass, dieses Verabscheuen von Expertise, von Wissenschaftlichkeit, von wahrheitsbewusstem Wissen: Diese Faktoren schlagen gegen solche Personen durch, gegen die Kraft der Argumentation. Das schwächt die kulturelle Funktion von Geist und Kenntnis. Unter dem Chaos der öffentlichen Meinungen würde Grass heute ebenso leiden; er wäre als öffentliche Figur um einiges blasser, als er es früher unter anderen medialen Bedingungen war.

Das Gespräch führte Sebastian Loskant.

Zur Person

Harro Zimmermann (75)

war Kulturredakteur bei Radio Bremen und Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bremen. Er ist Mitglied im deutschen PEN-Zentrum und im Kuratorium der Günter-Grass-Gesellschaft Bremen. 2023 erschien im Osburg-Verlag seine Günter-Grass-Biografie.

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