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Premiere im Schauspielhaus Verstörend und energiegeladen: "Der Keim" am Theater Bremen

Die Bühne wird zur norwegischen Insel: "Der Keim" erzählt eine Geschichte von Mord und kollektiver Schuld. Warum die deutsche Erstaufführung am Theater Bremen einen starken Eindruck hinterlässt.
05.04.2025, 13:42 Uhr
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Verstörend und energiegeladen:
Von Iris Hetscher

Eigentlich ist das komplette Schauspielhaus diese norwegische Insel, auf der die Geschichte spielt. Gleich nach dem Kassenschalter wird das Ticket kontrolliert, dann ist man mittendrin. Dort, wo sonst Premierenbesucher zwanglos bei einem Getränk ihren Tag Revue passieren lassen, bevor man sich zu Platz x in Reihe y begibt, sind auf einmal in grobe, erdfarbene Stoffe gekleidete Leute unterwegs, schütteln einem die Hand, quatschen einen an.

"Wir machen heute mal frei", sagt einer. Eine andere fragt, ob man bald mal wieder vorbei komme, "das wäre doch schön". Und beißt in einen rotwangigen Apfel. Dann tut es einen Paukenschlag, und die Stimmung schlägt um: "Das war Mord", schreit jemand, und: "Sagt allen Bescheid". Die Türen öffnen sich; die ganze Geschichte gibt es nun auf der Bühne.

Was ist das für eine Geschichte?

Der Roman "Der Keim" des norwegischen Autors Tarjei Vesaas (1897-1970) erzählt von zwei Morden auf einer Insel, deren Bevölkerung sich ihrer einstigen Idylle nicht mehr sicher sein kann. Wenn es überhaupt jemals eine Idylle war. Ein labiler, durch ein Trauma erschütterter Fremder, Andreas Vest, reist an, tötet aus einem Impuls heraus die junge Inga Li. Ihr Bruder Rolv jagt und bringt ihn daraufhin um, begleitet von den aufgeputschten Insulanern. Doch wie können die Insulaner mit dieser auch kollektiven Schuld weiterleben? Gibt es eine Lösung, einen Keim, der etwas wachsen lassen kann? Erschienen ist das Buch 1940, wenige Monate, nachdem die Nationalsozialisten das Land besetzt haben. Themen wie Kollaboration und Lynchjustiz dürften bereits in der Luft gelegen haben.

Wie ist das inszeniert?

Regisseurin Ruth Mensah hat sich in ihrer ersten Arbeit für das Theater Bremen eine Inszenierung einfallen lassen, die zwei völlig unterschiedlich getönte Teile aneinanderfügt. Zu Beginn rückt sie die große Rat- und Fassungslosigkeit am Ende des Romans in den Vordergrund: Alexander Swoboda etabliert seinen Karl Li, Vater des Mörders Rolv, der getöteten Inga und größter Bauer der Insel, als moralische Instanz des Abends. Er ist einer, der "auf dem Festland" studieren durfte, daher weiter blickt und ein bisschen anders tickt. Aber er verweigert seinen Mitinsulanern eine Antwort und auch eine Absolution. Und verschwindet erst einmal wieder.

Wer den Roman nicht kennt, könnte hier selbst etwas ratlos sein, doch das löst sich schnell auf. Denn das Geschehen wird in einer langen Rückblende erzählt, für die sich Bühnenbildnerin Yuni Hwang die Anmutung einer Inselanhöhe hat einfallen lassen. Mensah verdichtet den ersten Teil so, dass man sich dem Geschehen kaum entziehen kann. Das Ensemble spricht bewusst rhythmisiert und spielt sehr körperlich, was in einer von Waithera Lena Schreyeck choreografierten furiosen Hetzjagd kulminiert, die von archaischem Getrommel (Musik: Lukas Weber) weiter angeheizt wird. Mensah schafft es, die zunächst unterschwellig brodelnde, sich dann Bahn brechende Gewaltatmosphäre zu vermitteln – die mit einer Metzelei unter den Schweinen des Li-Hofs beginnt, offenbar der Trigger für den ersten Mord.

Wie ist das gespielt?

Der zweite Teil der Inszenierung ist dann ganz anders gelagert: pures, dem Realismus verpflichtetes Schauspielertheater. Das ist nicht weniger verstörend als der erste Teil, man muss sich allerdings auf den manchmal eigentümlich knapp und schmucklos klingenden Tonfall des Textes einlassen wollen.

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Die Familie Li debattiert in ihrem einem Gewächshaus nachempfundenen gläsernen Wohnzimmer über die Schuldfrage, alle anderen gruppieren sich drumherum. Alexander Swoboda glänzt einmal mehr als Karl, der mit sich ringt und schließlich von seiner moralischen Anhöhe herabsteigt, Karin Enzler als seine Frau Mari verzweifelt fast am Verlust ihres Lebensentwurfs. Erneut sehr stark agiert Jorid Lukaczik in der Doppelrolle als Inga/Rolv – mit unbändiger Energie und der Fähigkeit, präzise auf den Punkt zu spielen.

Mal unheimlich, mal verletzlich ist Irene Kleinschmidt, die die tragische Figur der Kari Nes interpretiert: Sie weiß, was Verlust heißt und wandelt wie eine übernatürliche, mahnende Erscheinung über die Insel. Judith Goldberg, Ferdinand Lehmann und Ruben Sabel in diversen Rollen vervollständigen mit intensiven Interpretationen, zu denen auch die auf viele verteilte Rolle des Andreas Vest gehört, diese starke Ensembleleistung. Und das in einer Inszenierung, die zum Glück darauf verzichtet, diesem parabelhaften Buch Aktualität aufzuzwingen. Nachdenklich stimmt sie sowieso.

Info

Die Termine: 30. April, 19.30 Uhr; 11. Mai, 19.30 Uhr, 19. Juni, 19.30 Uhr, 27. Juni, 19.30 Uhr (zum letzten Mal).

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