Frau Hebestreit, was genau haben Sie in Ihrer Studie zu den Essgewohnheiten von Jugendlichen untersucht?
Antje Hebestreit: Wir wollten erforschen, welche Rolle der emotionale Zustand auf die Impulsivität und damit auf die Lebensmittelwahl von Kindern und Jugendlichen haben. Wo müsste man bei einer optimalen Intervention ansetzen, um ungesunde Lebensmittel zu vermeiden: Beim emotionalen Zustand oder bei der Impulsivität? Dazu haben wir Daten von rund 16.000 Zwölf- bis Siebzehnjährigen aus acht europäischen Ländern analysiert.
Wie kamen Sie zu Ihrer Fragestellung?
Darauf haben uns Vorstudien gebracht. Belastende Lebensereignisse wie der Tod eines Familienmitglieds oder Mobbing in der Schule senken das Wohlbefinden und setzen in der Folge die Impulskontrolle, das zu kompensieren, herab. Eine weitere Studie zeigte, dass Jugendliche mit einer herabgesetzten Impulskontrolle – etwa durch Angst, Wut oder Trauer – eher zu zucker- und fetthaltigen Snacks griffen, wenn sie keine andere Möglichkeit hatten, mit den Emotionen umzugehen. Wenn sich das länger hinzieht, kann das zu Stoffwechselerkrankungen führen.
Was haben Sie herausgefunden?
Die wichtigste Aussage ist, dass emotionaler Stress die Ernährungsauswahl bei Jugendlichen beeinflussen kann. Die Impulsivität hat dabei einen etwas stärkeren Effekt als das Wohlbefinden. Natürlich gibt es Hinweise darauf, dass Stress, Wohlbefinden und Impulsivität einander bedingen. Aber wir wollten schauen, was am Anfang dieser Kaskade steht.
Woran konnten Sie das festmachen?
Wir haben die Neigung untersucht, bestimmte Lebensmittel auszuwählen. Beispielsweise konnten die Jugendlichen in Fragebögen zwischen einem fettreduzierten und einem fetthaltigeren Produkt wählen, etwa Natur- oder Erdbeerjoghurt. Wer eine emotionsgetrieben schlechte Impulskontrolle hat, neigt dazu, fett und vor allem süß stärker auszuwählen.
Warum ist das so?
Wenn ich eine negative Impulskontrolle habe, greife ich zu den Lebensmitteln, die meine Emotionen besänftigen. Ich greife bei Stress nicht zur Karotte, sondern versuche, mein Belohnungssystem zu kitzeln. Da ist süß die Geschmacksrichtung, die bei allen Spezies bevorzugt ist. Darum sehen wir den Effekt bei süßen Snacks noch deutlicher als bei fettigen: Mit süß belohne ich mich. Da lege ich mir nicht ein Stück Butter auf die Zunge. Den stärksten Effekt erwarten wir für die Kombination aus süß und fett, aber das untersuchen wir gerade erst.
In einer anderen Studie haben Sie gezeigt, dass auch Werbung und Mediennutzung Einflussfaktoren sind.
Jugendliche, die länger soziale Medien nutzen, haben eine stärkere Vorliebe für fett, süß und salzig, weniger für bitter. Bitter ist aber die Geschmacksrichtung für gesunde Lebensmittel. Das heißt, Medien – oder vielleicht auch der Stress infolge der langen Mediennutzung – beeinflussen Jugendliche in Richtung süß, fett und salzig. Das sind genau die Lebensmittel in der Werbung, die von der Industrie zum Snacken hergestellt werden. Wir sehen, dass Jugendliche, die längere Zeit mit medialem Multitasking verbringen – also mehrere Medien gleichzeitig nutzen – Probleme haben, ihre Impulsivität herabzusetzen. Wenn dann noch auf den sozialen Plattformen Werbung gemacht wird für ungesunde Lebensmittel, sind das gleich zwei Faktoren, die darauf hinwirken, dass sich Jugendliche ungesund ernähren. Werbung für ungesunde Lebensmittel, die sich an Kinder und Jugendliche richtet, sollte daher reguliert werden.
Weshalb schauen Sie speziell auf Jugendliche?
Jugendliche sind besonders gefährdet: Ihre Gehirnentwicklung ist noch nicht abgeschlossen, sie haben ein erhöhtes Risikoverhalten, und Gesundheit ist eher selten ein Aspekt bei ihren Entscheidungen. Es ist das Alter, in dem wir viele Grundlagen- und Bewältigungsstrategien fürs Leben lernen, etwa um anders mit Stress umzugehen als mit einer Tafel Schokolade oder einem Liter Eis. Wenn ich dazu tendiere, meine Emotionen durch süß und fett zu reduzieren, führt das zu Übergewicht. Eine andere Studie zeigt zudem: Wer in früheren Jahren mehr süß isst, trinkt später mehr Alkohol.
Mit dem Alter werden wir aber klüger?
Das müsste man genau angucken. Je älter man wird, desto mehr Erfahrung hat man, welche Konsequenz ein ungesunder Lebensstil hat. Das wird im Jugendalter eher ausgeblendet. Es bedarf aber einer sehr langen Zeit, bis eine einmal eingeschliffene Verhaltensweise überschrieben ist. In der Jugend ist die Formbarkeit und Lernfähigkeit des Gehirns am größten. Alles, was ich nicht brauche, wird „ausgemistet“. Alles, was ich oft wiederhole, schleift sich ein. Darum ist es wichtig, in dem Alter gesundes Verhalten zu erlernen und Tools zu haben, um sich nicht festzufahren.
Wie lässt sich dem Problem entgegenwirken?
Der erste Schritt ist, zu reflektieren: „Hier stimmt was nicht, ich falle immer in dieses Muster.“ Dann ist es sehr hilfreich, sich in der Familie Hilfe zu holen oder Allianzen zu suchen: „Gehst du mit mir joggen oder spazieren?“ „Redest du mit mir?“ Kinder, die eine planbare Familienmahlzeit am Tag haben, wo sie Sachen besprechen können, haben viel gesündere Ernährungsmuster.
Was können Eltern sonst noch tun?
Auf jeden Fall beobachten, ob das Kind Stress hat und gemeinsam versuchen, den Stress zu reduzieren. Bei Grundschulkindern hilft es auch, Medien-Regeln aufzustellen und zu überwachen. Bei älteren Kindern kann Co-Surfen gut sein: „Was machst du, was schaust du dir an?“ Und dann gemeinsam reflektieren: „Dir ist schon klar, dass…“ Und natürlich hilft es, das Angebot an gesunder Ernährung zu erhöhen. Wenn Snackfood immer verfügbar ist, dann ist dieser Griff schneller gemacht als der zu Möhre oder Apfel.
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Das Gespräch führte Björn Lohmann.