- Neue Kernkraftwerke sind unrentabel
- Unterschiedliche Prognosen zum Neubau bis 2050
- Kernenergie könnte der Wasserstoffwirtschaft nutzen
- Risiken durch Geopolitik und Klimakrise
14 statt wie bislang geplant sechs Kernkraftwerke möchte die französische Regierung neu bauen lassen, um die Energiewende zu meistern. Sie sollen Kohlekraftwerke ersetzen und so die CO2-Emissionen verringern, teilte die Regierung Anfang des Jahres mit. In Finnland ging Ende 2023 ein neuer Kernreaktor ans Netz, der erste seit Jahrzehnten.
Insgesamt 22 Nationen unterzeichneten nur Wochen zuvor am Rande der Weltklimakonferenz eine Deklaration, in der sie bekunden, die installierte Leistung von Kernkraftwerken bis 2050 gegenüber 2020 verdreifachen zu wollen. War Deutschlands Atomausstieg ein Alleingang und klimapolitischer Irrweg?
Die Mehrheit der Energiesystemforscher sieht das nicht so. „Eine Verdreifachung der Kernenergie bis 2050 würde mit Blick auf die Klimaschutz- und Energiepolitik eine Rolle rückwärts bedeuten, die weder aus technischer noch ökonomischer oder ökologischer Sicht zu rechtfertigen ist“, sagt etwa Martin Weibelzahl, Professor für digitale Energiemärkte an der Universität Luxemburg. Ökonomisch sei die Kernenergie unter Berücksichtigung der enormen Kosten, die mit einer Endlagerung umweltschädlicher radioaktiv belasteter Abfälle verbunden sind, und im Vergleich zu alternativen Technologien zur Stromerzeugung ohne signifikante Investitionsförderungen kaum wettbewerbsfähig.
Neue Kernkraftwerke sind unrentabel
Zahlreiche Studien – etwa des Fraunhofer Instituts für Solare Energiesysteme, des Umweltbundesamts und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung – beziffern die Kosten der Stromerzeugung in europäischen Großkraftwerken mit zwei bis sechs Cent pro Kilowattstunde bei Photovoltaik, vier bis acht Cent bei Windkraft an Land und 14 bis 19 Cent bei Atomkraft. Manche Studien, die alle gesamtgesellschaftlichen Kosten einbeziehen, sehen Atomstrom in Deutschland sogar bei bis zu 40 Cent pro Kilowattstunde. Der neue finnische Kernreaktor musste bereits wiederholt gedrosselt werden, weil die nationale Stromerzeugung den Bedarf überstieg und erneuerbare Energien günstiger lieferten.
„Mittlerweile sind erneuerbare Energien bei entsprechenden Standorten sehr wettbewerbsfähig“, ordnet Christian Rehtanz ein, Leiter des Instituts für Energiesysteme, Energieeffizienz und Energiewirtschaft an der TU Dortmund. „Nimmt man als Referenz die Kosten geplanter Akw in Europa, dann sind diese deutlich teurer, auch wenn man Speichertechnologien oder die Verwendung von Gas plus Abscheidung von CO2 oder Wasserstoff als Zwischenpuffer hinzunimmt.“ Lediglich der Weiterbetrieb abgeschriebener Kraftwerke ist aus Betreibersicht noch höchst profitabel.
Unterschiedliche Prognosen zum Neubau bis 2050
Hinzu kommt, dass sich die Bauvorhaben oft um viele Jahre verzögern. Der neue finnische Reaktor etwa wurde mit 14 Jahren Verzögerung fertiggestellt und kostete mit rund elf Milliarden Euro knapp das Vierfache der ursprünglich veranschlagten Summe. „Wenn man die Bauzeiten der letzten Akw-Vorhaben in Europa betrachtet, dann ist eine Verdreifachung (der installierten Leistung bis 2050) sehr ambitioniert“, kommentiert Rehtanz.
Die Internationale Energieagentur – die bislang die Entwicklung der erneuerbaren Energien regelmäßig unterschätzt hat – erwartet, dass sich der weltweite Anteil der Kernenergie bis zur Mitte des Jahrhunderts auf 20 Prozent verdoppelt. Derzeit haben aber nur vier Länder mehr als einen Kernreaktor im Bau – China, Indien, Russland und Südkorea. In mehreren der 33 Staaten mit Kernkraftwerken liegen etwaige Neubaupläne seit Jahren auf Eis.
Kernenergie könnte der Wasserstoffwirtschaft nutzen
Vorteilhaft könnten Kernkraftwerke im Zusammenspiel mit der Wasserstoffherstellung sein, denn die dazu nötigen Elektrolyseure arbeiten nur wirtschaftlich, wenn sie mindestens 4000 bis 6000 Stunden im Jahr genutzt werden. „Der Strom der AKW geht nur ins Netz, wenn erneuerbare Energien nicht genug für den Bedarf erzeugen, sonst in die Elektrolyse“, skizziert Rehtanz das Konzept. Das würde die Abhängigkeit von einem zukünftigen globalen Wasserstoffmarkt verringern.
Für die Grundlastversorgung hingegen halten Forscher Kernenergie für unnötig. „Hier gibt es bereits heute wichtige innovative Bausteine wie Speicher und Nachfrageflexibilität, um das Thema der Grundlastabdeckung auf neuen Wegen in den Griff zu bekommen“, nennt Weibelzahl die wichtigsten zwei Lösungen. So könnten etwa Industrieprozesse verstärkt daran ausgerichtet werden, wie erneuerbare Energien verfügbar sind.
Risiken durch Geopolitik und Klimakrise
Auch geopolitisch ist die Kernenergie problematisch. Das in der EU genutzte angereicherte Uran stammt zu einem Viertel aus Russland – vielleicht auch deswegen ist Uran nach Russlands Angriff auf die Ukraine nicht mit Sanktionen belegt worden. „Spätestens seit den Reaktorkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima sowie der russischen Besetzung des ukrainischen Kernkraftwerkes Saporischschja wurde deutlich, dass das Bild der Kernenergie als umweltverträgliche, kostengünstige und versorgungssichere Stromerzeugungstechnologie eine Illusion ist“, resümiert Weibelzahl. „Im Gegenteil wurde durch diese Ereignisse deutlich, welche enormen Risiken sowohl durch den Betrieb als auch durch gezielte Fremdeinwirkungen auf Kernkraftwerke in Kriegs- und Friedenszeiten entstehen können.“
Das stärkste Argument gegen die Kernkraft als Klimaschutztechnologie ist vielleicht die Klimakrise selbst: Jeden Sommer müssen in Frankreich Kernkraftwerke abgeschaltet werden, weil aufgrund der aufgeheizten Flüsse ihre Kühlung nicht mehr gewährleistet ist. Dann ist das Land massiv auf Importe aus den Nachbarländern angewiesen. Hitzeperioden werden jedoch häufiger und intensiver – ebenso wie Flusspegelstände, die während einer Dürre zu niedrig sind, um eine Akw-Kühlung zu ermöglichen.