Was ist denn da passiert? Krakelige Linien in Blau und Grau ziehen sich im Eingangsraum des Kupferstichkabinetts über die Wände, ballen sich auch mal zu wollknäuelartigen Gebilden. Das Zeitalter der Aktionskunst ist doch eigentlich vorbei. Oder doch nicht?
Zehn Schüler und Schülerinnen der Waldorfschule an der Touler Straße haben das angerichtet in der Kunsthalle Bremen, haben zu Stiften gegriffen und ihrer Fantasie freien Lauf gelassen. Und das alles mit ausdrücklicher Billigung durch Direktor Christoph Grunenberg und Kurator Hartwig Dingfelder. Denn das Motto der neuen Sonderausstellung lautet "Wild! Kinder – Träume – Tiere – Kunst". Wo wild drauf steht, muss auch wild drin sein.
Die Schau, die sich aus der Sammlung und Dauerleihgaben speist, sei bereits die vierte innerhalb eines Jahres, an der sich Kinder und Jugendliche beteiligt hätten, so Grunenberg nicht ohne Stolz. Auch dieses Mal haben die Jugendkuratoren von "New Perceptions" an der Auswahl mitgewirkt. Dingfelder, der am Haus für die Kunstvermittlung zuständig ist, hat die Ausstellung zudem überaus niedrigschwellig angelegt – mit Tafeln beispielsweise, die Sachverhalte treffend und einfach erklären. Darüber dürften sich nicht nur die kleinen Besucher freuen.
Wilder Alltag: Wer ist eigentlich wild? Da fallen einem sofort Tiere ein, und so gibt es im ersten Raum eine Wand mit vielen Tierdarstellungen, mit dabei sind eine Katze von Paula Modersohn-Becker, Pinguine von Merce Cunningham oder ein schwarzer Panther von Max Slevogt. Es geht ums Fressen und Gefressen-Werden, was heute auch heißen kann, dass Nahrung nicht mehr als das identifizierbar ist, was sie einmal war – wie die Chicken McNuggets auf dem Bild "McDonald's" von Martin Parr. Tiere werden für die Menschenkinder, denen Wildheit ja aberzogen wird, zu Projektionsflächen: mögliche Spielkameraden (wie für "Die kleine Wäscherin" von Pierre Bonnard), Kuschel- oder Märchenwesen, wie, natürlich, die aufmüpfigen Bremer Stadtmusikanten von Otmar Alt.
Bedrohte Wildheit: Albrecht Dürers Holzschnitt "Rhinocerus (Das Rhinozeros)" von 1515 zeigt die Kunsthalle in gleich sieben Varianten, die Kunstvereins-Mitgründer Hieronymus Klugkist einst stiftete, ergänzt durch ein Tastobjekt. Dürer hatte das Tier überhaupt nicht gesehen, trotzdem galt sein Porträt jahrhundertelang als Standard. Fotos heutiger Rhinozerosse zeigen sie als genauso bedroht wie Wale, für die sich HAP Grieshaber mit flächigen Farbholzschnitten einsetzt. Den durch den Film "Flipper" zu Ruhm gekommenen Delfinen, die häufig ihr Leben in Aquarien fristen müssen, hat Diana Thater eine raumfüllende, poetische Video-Installation gewidmet.
Wilde Kunst: Darüber könnte man locker eine eigene Ausstellung machen, eigentlich sogar mehrere. In der Kunsthalle komprimiert Dingfelder das Thema in einem Raum und vermittelt augenzwinkernd kommentierte Eindrücke vom Sturm und Drang bildender Künstler des 20. Jahrhunderts. Zu Emil Schumachers "Tubal" von 1984 heißt es "mit Sand geschmissen", unter dem Oberbegriff Klecksen und Tropfen fühlt sich Nam June Paiks getuschtes "Ohne Titel (Krawatten-Zeichnung)" von 1961 wohl. Bei John Cage ist gekokelt worden, Dieter Roth hat für "Am Strand" Gegenstände mit Schokolade überzogen.
Wilde Träume: Wer schläft, gerät mitunter in verdrehte Welten, in denen seltsame Wesen beheimatet sind. Im letzten thematischen Raum herrschen auch mal bedröppelt aussehende "Nachtgeister" von Katsushika Hokusai oder "Phantastische Figuren" von Hieronymus Bosch. Doch die wilde Nacht wird abgelöst durch die "Geburt des Tages", in fröhlichen Farben von Joan Miró gemalt.
Wer selbst etwas ruhen möchte, kann dies auf einem großen weißen Ruhekissen hinter weißen Vorhängen tun. Und dort darüber nachdenken, was die überall in der Ausstellung verstreuten "Stillen Beobachter" auf den Kinderporträts wohl als wild bezeichnen würden. Oder, welche Ideen man im "Wilden Atelier" in die Tat umsetzen könnte. "Wild" kann vieles sein. Auf einem der Zettel, die man ausfüllen und an eine Wand hängen kann, steht: "Nutella auf Käse".