Berlin. In der Anfangsszene von „The Million Dollar Hotel“ lässt Wim Wenders den jungen Tom Tom von einem Hochhausdach über Los Angeles in die Tiefe springen. Während er fällt, blickt Tom Tom in die Wohnungen und stellt überrascht fest: Hinter den Fenstern gibt es tatsächlich echtes Leben, Menschen lieben, streiten, sprechen miteinander. Für eine Umkehr in die Welt, die er gerade verlässt, ist es allerdings zu spät.
Könnte diese Szene aus dem Jahr 2000 für das Gesamtwerk des Regisseurs stehen? Man könnte sagen, dass Wim Wenders, der an diesem Freitag 75 Jahre alt wird, immer das Leben einfangen wollte, so wie es oft spielt – im freien Fall oder als lange Reise. Als Jugendlicher hatte Wenders seine Liebe zum Film entdeckt, filmte mit einer Super-8-Kamera aus dem Elternhaus im Ruhrgebiet rauchende Schornsteine und drehte Kurzfilme. „Ich hatte viele Träume“, sagt er in der Dokumentation „Wim Wenders – Desperado“: Architekt, Arzt, Philosoph, Priester, Maler. Das Kino sei das einzige Metier, das diese Professionen vereine, so Wenders, der sich zunächst als „reiner Bildermacher“ definierte.
Das Roadmovie war zunächst der liebste Tummelplatz von Wilhelm Ernst Wenders, so sein bürgerlicher Name. Ob im frühen Schwarz-Weiß-Werk „Im Lauf der Zeit“ (1976), beim Trip entlang der innerdeutschen Grenze in „Der Stand der Dinge“ (1982), in der Wüste von „Paris, Texas“ (1984) und sogar im „Himmel über Berlin“ (1987) mit den Engeln Damiel (Bruno Ganz) und Cassiel (Otto Sander) – im Reisen, im Flüchtigen sollen die Menschen zu sich kommen. Wobei „die Menschen“ bei Wenders vor allem heißt: die Männer. Wenders hat als einer der Hauptvertreter des neuen deutschen Kinos vor allem in den 1970er- und 1980er-Jahren Frauen gerne als Beiwerk und in stereotypen Rollen eingesetzt. Das wirkt beim Wiederanschauen seiner Filme heute durchaus antiquiert.
Frauen dürfen die Sehnsucht oder die Muse dieser oft verkrachten Machogestalten verkörpern, die sich in seinen Filmen tummeln. Nastassja Kinski als Peepshow-Tänzerin im rosa Angorapulli („Paris, Texas“) wäre da zu nennen oder Solveig Dommartin, die in „Der Himmel über Berlin“ vor allem schön sein und an einer Hotelbar auch noch albern radebrechen musste. Diese sorgsam inszenierte Melancholie, die Wenders’ Markenzeichen ist, kann, wie in dieser Szene, schnell ins Prätentiöse abrutschen, manchmal sogar in Kitsch. Oder aber, trotz oder vielleicht auch wegen der gleichzeitig ausgestellten technischen Brillanz seiner Filme, in Langeweile. Erzählen sei, so Wenders, wenn man nicht wisse, wie es ausgeht. In den 70er-Jahren hoffte er, diesen Ansatz mit dem Mythos des US-amerikanischen Kinos verknüpfen zu können. Das ging allerdings gründlich schief. Er plante, mit Francis Ford Coppola, der gerade „Apocalypse Now“ beendet hatte, einen Film über den Krimi-Autor Dashiell Hammett. Doch Coppola drängte auf einen Plan, Wenders hing an einer offenen Arbeitsweise und der Improvisation. Wenders machte „Hammett“ schließlich im Alleingang. Und danach „Paris, Texas“, für den er die Goldene Palme von Venedig erhielt. Dann kehrte er nach Europa zurück.
Feiern will er seinen 75. Geburtstag nicht, er arbeitet lieber. An einem Filmprojekt in Frankreich, wie seine PR-Firma mitteilt und an einem Dokumentarfilm über den Schweizer Architekten Peter Zumthor. Dokumentationen sind für Wenders mit der Zeit immer wichtiger geworden, vielleicht auch, weil er sich den Zwängen internationaler Kinoproduktionen ungern unterwirft. So entstanden Streifen wie der auch kommerziell erfolgreiche über die kubanische Band Buena Vista Social Club oder über den Fotografen Sebastião Salgado („Das Salz der Erde“). Mit „Pina“ drehte Wenders tatsächlich auch einmal einen (preisgekrönten) Film über eine Frau, die Tanzlegende Pina Bausch. Seine jüngste Doku über Papst Franziskus („Ein Mann des Wortes“, 2018) verwunderte viele Kritiker angesichts der schon an einen Kniefall grenzenden Kritiklosigkeit gegenüber dem Vatikan.
Wenders ist zudem seit einigen Jahren fasziniert von 3D. In „Every Thing Will Be Fine“ (2015) setzte er die Technik für einen Spielfilm ein. Doch trotz hochkarätiger Besetzung mit James Franco und Charlotte Gainsbourg stieß der kammerspielartige Beziehungsfilm auf ein eher verhaltenes Echo.
Auch die Musik hat Wenders nie losgelassen. Vor ein paar Jahren debütierte er in Berlin mit George Bizets „Die Perlenfischer“ als Opernregisseur; als Jugendlicher wollte er professionell Saxofon spielen. Dann kam das Kino, und die Musik entwickelte sich zur wichtigen Ressource für seine Filme. In „Paris, Texas“ erklingt die Steel-Gitarre von Ray Cooder, im „Himmel über Berlin“ treten Nick Cave and the Bad Seeds auf.
Mit der Düsseldorfer Band „Die Toten Hosen“ pflegt Wenders, der ebenfalls aus der Rheinmetropole stammt, eine langjährige Freundschaft: Er hat einige ihrer Musikvideos inszeniert. Und in „Palermo shooting“ (2008) mimt Sänger Campino einen Fotografen in der Psychokrise. Einmal mehr spaltete dieser Film die Kritik, die von einem „grobgezimmerten Mysterienspiel“ („Der Spiegel“) und „Seniorenkino, das alte Autos, alte Kameras, alte Häuser, alte Männer“ zeige (Rüdiger Suchsland) sprach.
Wim Wenders bleibt ein Filmemacher, dessen Werke polarisieren. Seine Verdienste um das Ausprobieren neuer filmischer Erzählweisen in den 1970ern, an der Seite von Volker Schlöndorff, Werner Herzog, Rainer Werner Fassbinder, aber auch von Margarethe von Trotta, Helke Sander oder Ulrike Ottinger, bleiben davon unbenommen.
Weitere Informationen
In der ARD-Mediathek findet sich bis zum 14. September eine Werkschau der Filme von Wim Wenders, angefangen von dem Kurzfilm „Same Player Shoots Again“ von 1967 bis zu „Pina – tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren“
von 2011.