Milton Bona muss fast schon rufen. Der Regen prasselt so laut auf das Zeltdach, dass die eigenen Worte kaum zu verstehen sind. Windböen zerren an der Plane. Und irgendwo muss eine undichte Stelle im Dach sein, neben einem Tisch hat sich eine kleine Pfütze gebildet. Das Mittagessen ist heute ein wenig verspätet gekommen, die letzten Spuren werden gerade beseitigt. Krümel von den Tischen gewischt, die Stühle gerade gerückt, irgendjemand hat eine Kaffeetasse vergessen.
„Es ist noch nicht alles perfekt hier, aber wir versuchen, es den Bewohnern unter diesen Umständen so erträglich wie möglich zu machen. Erträglich und auch ein bisschen wohnlich“, sagt Milton Bona. Er leitet den neuen Zeltstandort für Flüchtlinge am Überseetor. Ende vergangener Woche sind hier die ersten Menschen eingezogen. Familien und Alleinstehende. „Die meisten von ihnen kommen aus Syrien, sind vor dem Krieg und dem IS-Terror geflohen. Aber es gibt auch viele Flüchtlinge aus den Balkanländern“, sagt Bona.
Drei Zelte inklusive des Verpflegungszelts stehen bereits, in den nächsten Tagen sollen zwei weitere Wohnzelte aufgestellt werden. „Dann sind hier bis zum Herbst rund 300 Menschen untergebracht, jetzt sind es bereits 168“, sagt Bertold Reetz von der Inneren Mission, die Trägerin der Notunterkunft. Sie stellt die Betreuer, die sich rund um die Uhr um Erwachsene und Kinder kümmern und den Alltag in den Zelten organisieren. Dazu gehören vor allem Termine bei Behörden, aber auch Fahrten zu Krankenhäusern und Ärzten, wenn es gesundheitliche Probleme gibt. „Eine große Unterstützung sind die Helfer aus dem Stadtteil“, sagt Reetz. Viele bieten sich ehrenamtlich als Betreuer an oder bringen Spenden und Geschenke vorbei. Duschgel, Shampoo, Zahnpasta, Hygieneartikel, Windeln für die Kinder, Waschmittel. Vor dem Lagerraum hat sich eine kleine Schlange gebildet, drinnen verteilen Helfer die benötigten Sachen. „Es ist einfach unglaublich, wie groß die Unterstützung ist. Das hilft vor allem auch, dieses Provisorium zu akzeptieren. „Zelte hat sich niemand gewünscht, aber im Moment geht es einfach nicht anders“, sagt Reetz.
Milton Bona schließt die Tür zum Spielzimmer auf. Auf dem Boden liegen Bauklötze, Malstifte und -bücher. An der Wand steht ein kleines Sofa zum Einkuscheln. Zwölf Kinder leben im Camp, in der nächsten Woche werden noch mehr dazukommen. Draußen haben Bona und die Helfer zwei Sandkisten für sie aufgebaut. „Hier ist ja ansonsten nicht viel, und in den Zelten ist nicht wirklich Platz zum Spielen. Die Gänge müssen als Fluchtwege frei bleiben“, sagt der Leiter.
Die Flüchtlingszelte sind alle nach dem gleichen Prinzip ausgestattet. Es gibt Schlafkabinen, die durch Holzwände voneinander abgetrennt sind. Kabinen mit vier oder sechs Betten, einem Tisch, Stühlen und Umkleidekabinen sollen für so viel Privatsphäre sorgen, wie in einem Großzelt, in dem so viele Menschen leben, möglich ist. Nach oben sind die Kabinen offen, der Geräuschpegel ist – auch nachts – entsprechend hoch.
Am Gangende hat Mohammed Ramdan eine Kabine bezogen. Er ist aus Syrien geflohen, den Terror des IS hat er hautnah erlebt. „Das Nachbarhaus ist durch einen Bombenangriff zerstört worden, ein Cousin wurde im März bei einem Selbstmordattentat getötet“, sagt er. Zwei Monate war Ramdan auf den Ladeflächen von Lastwagen unterwegs. Zu Hause hat Ramdan als Englischlehrer gearbeitet, jetzt will er so schnell wie möglich Deutsch lernen. „Language is the key“, sagt er. Die Sprache ist der Schlüssel, um sein neues Leben in Deutschland zu beginnen.
Habib Acam weiß, was es bedeutet, auf der Flucht zu sein und neu anzufangen. Der Betreuer der Inneren Mission ist 1991 mit seiner Familie aus dem Irak geflohen. Damals war er zwölf Jahre alt, ein Jahr hat die Flucht gedauert. „Wir haben in Wäldern geschlafen, Angst und Unsicherheit waren immer da. So wie die Bilder und Erinnerungen an das Erlebte“, sagt er. Viele der Flüchtlinge in den Zelten am Überseetor haben Traumatisches erlebt. Terror, Gewalt, Krieg und Tod. „Die Bilder kommen immer wieder. Es ist wichtig, dass die Menschen Hilfe bekommen, das zu verarbeiten. Aber genauso wichtig ist, dass sie nach der Flucht erst einmal zur Ruhe kommen“, sagt Acam. „Die wollen wir ihnen hier so gut es geht geben.“