Kinder und Jugendliche haben während des Corona-Lockdowns zu wenig Bewegung. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung des Instituts für Technologie und der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe. Der Bremer Sportwissenschaftler Mirko Brandes fordert, Bewegungsangebote über die Schule oder Sportvereine auch in Pandemie-Zeiten aufrecht zu erhalten.
Laut Brandes, der am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen tätig ist, hat die Untersuchung in mehreren Ländern gezeigt, dass sich Kinder und Jugendliche im ersten Lockdown zwar mehr bewegt haben als in Normalzeiten, da sie nicht mehr stundenlang in der Schule gesessen hätten. Dabei habe es sich aber vor allem um leichtere Bewegungen gehandelt. Für die Entwicklung motorischer Fähigkeiten sei das zu wenig, vielmehr sollte der Körper täglich 60 Minuten auf Touren gebracht werden. Kurz: Es soll anstrengend sein.
Das Maß dieser intensiven Bewegung sei dem Wissenschaftler zufolge bei Kindern und Jugendlichen „dramatisch eingebrochen“. Vor allem Kinder in städtisch geprägten Wohngebieten, die nur wenig Raum und Möglichkeiten aufweisen, seien seltener körperlich aktiv gewesen. „Am besten durch die Krise gekommen sind Einfamilienhäuser mit Garten“, sagt der Karlsruher Forscher Alexander Woll, der die Studie leitete und die Ergebnisse kürzlich gemeinsam mit Brandes vorstellte.
Ergebnisse über die Auswirkungen des derzeitigen zweiten Lockdowns liegen erst in ein paar Monaten vor. Da die Möglichkeiten, im Freien aktiv zu sein, im Winter reduziert sind, rechnet der Bremer Wissenschaftler Brandes im Hinblick auf die Bewegungsintensität von Kindern und Jugendlichen mit einer Verschärfung der Lage. Als Problem hat Brandes neben der Beschränkung der Sportvereine auch den sorglosen Umgang mit dem Schulsport ausgemacht: „Ich habe den Eindruck, dass der Schulsport immer als erstes gestrichen wird.“ Dabei sei Schulsport auch in Zeiten des Homeschoolings möglich. So könnte es Bewegungshausaufgaben geben oder Trainingseinheiten, die online angeleitet werden.
Auch als Erwachsene zu wenig Bewegung
Handlungsbedarf bestehe auf jeden Fall, vor allem auch unter dem Gesichtspunkt der Prävention: Denn wer sich in jungen Jahren viel bewege, werde dies auch als Erwachsener tun, sagt Brandes. „Genauso sieht man, dass Menschen, die sich als Kind wenig bewegt haben, auch als Erwachsene zu wenig Bewegung haben.“ Bei diesen Menschen treten dann Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und andere Zivilisationserkrankungen häufiger auf.
Auch die Bremer Hilfsstellen sind beunruhigt: Sowohl das Jungenbüro als auch der Kinderschutzbund befürchten, dass viele Kinder und Jugendliche zu Hause versteckte Gewalt erfahren. Durch geschlossene Schulen und mangelnde Freizeitangebote fehle vielen Heranwachsenden ein Schutzraum, erklärt Alex Scott vom Bremer Jungenbüro. „Wichtig ist, dass die Heranwachsenden wissen, dass sie sich Hilfe suchen dürfen. Die Kinderrechte haben auch während einer Pandemie Bestand“, sagt Kathrin Moosdorf. Nicht nur mögliche Gewalt setze den Kindern und Jugendlichen zu, sondern auch der fehlende Kontakt zu Gleichaltrigen. Bei der „Nummer gegen Kummer“, die der Kinderschutzbund betreut, rufen viele Kinder und Jugendliche an, die wegen der ständig wechselnden Regeln und des fehlenden Kontaktes verunsichert seien, so Moosdorf.
Dass die zweite Welle und der zweite Lockdown den Heranwachsenden noch stärker zusetze als die erste, davon ist Anne-Lina Mörsberger von der Bremer Psychotherapeutenkammer überzeugt. Zumindest mache sie diese Erfahrung in ihrer Praxis. Durch den fehlenden Kontakt zu Gleichaltrigen und den ausschließlichen Vergleich über die sozialen Medien könnten außerdem psychische Erkrankungen wie zum Beispiel Essstörungen verstärkt werden.
Auch Stefan Trapp, der Landesvorsitzende der Bremer Kinder- und Jugendärzte, warnt vor den Auswirkungen der Pandemie-Maßnahmen. Dazu zählten auch Entwicklungsdefizite. „Viele Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, machen massive sprachliche Rückschritte“, sagt Trapp. „Auch andere Fähigkeiten, die sie in der Kita und im Spiel mit anderen Kindern erwerben, gehen verloren.“ Fein- und grobmotorische Fähigkeiten etwa nähmen ab.