Selbst wer das Geschäft noch nie betreten hat, kann feststellen, dass es so gar nichts mit Filialen großer Modeketten gemein hat. Conradi First and Second Hand ist anders, dort legt man Wert auf eine eigene Note. Das zeigt sich schon in den Schaufenstern, gelegen an der Kreuzung, wo die Straßen Außer der Schleifmühle, Rembertistraße, Am Dobben und An der Weide aufeinandertreffen. Wenige Kleidungsstücke sind dort wie Kunstwerke drapiert, oft begleitet von saisonaler Poesie und eigenen Arbeiten. Maria Conradi hat sich auch als Künstlerin einen Namen gemacht und Ausstellungen in Bremen und außerhalb bestritten.
Momentan müssen Passanten in einem der Fenster etwas anderes lesen: „Zeit für einen Generationswechsel“. Das Geschäft sei demnächst in gute Hände abzugeben, an jemanden, heißt es dort, der bereit ist, Verantwortung zu übernehmen und „eigene Kreativität zu entwickeln“. Maria Conradi sucht einen Nachfolger, und das sei alles andere als leicht. „Wer hierfür nicht brennen kann, ist fehl am Platz“, sagt sie. Maria Conradi hat immer gebrannt. „Ich werde mein Leben lang ein bisschen über das Ziel hinausschießen.“ Für die Dauer ihres Arbeitslebens gilt das allemal – Maria Conradi ist 85 Jahre alt.
Es sei an der Zeit, sich aus dem Geschäftsleben zurückzuziehen. „Das Alter zwingt mich, man verlangsamt sich“. Nicht das allein sei der Auslöser für ihren Entschluss, ihren Laden schweren Herzens abzugeben. Es sei auch eine Veränderung im Team: Margarethe Paskos, „eine Säule des Geschäfts“, wird im Frühling in Pension gehen. Sie wolle es ihr nach langem Überlegen gleichtun, sagt Maria Conradi. Ihr Sohn scherze schon, dass er früher in Rente gehe als seine Mutter.
Maria Conradi hat das Modegeschäft etabliert, lange bevor sich der Kauf von Kleidung aus zweiter Hand als Teil eines nachhaltigen Lebenswandels entwickelt hat. Es sind vornehmlich Stammkundinnen, die sich bei Conradi einkleiden, Männermode spielt eine untergeordnete Rolle.
Eigenwillige Öffnungszeiten
Wer Conradi gewissermaßen die Kleiderstange hält, weiß, dass sich die Inhaberin und ihr Team nicht textilen, aber geschäftlichen Trends widersetzen. Bezahlt wird in bar, sonnabends bleibt die Türen geschlossen, vor zwölf Uhr öffnen sie sich werktags nicht, um 18 Uhr ist Schluss. Familienfreundliche Arbeitszeiten galten bei Maria Conradi schon, bevor das Wort „Work-Life-Balance“ überhaupt geboren war. Es gibt keine Homepage und keinen Online-Shop. Dafür gibt es stetige und innige Geschäftsverbindungen zu anderen Boutiquen, berichtet Maria Conradi. Sie seien über Jahrzehnte gewachsen, „tiefes Vertrauen“ bestimme die Geschäfte. Das sei ein großes Glück in einer Branche, „in der auch viel gemogelt wird“.
Maria Conradi kam als Kind nach Bremen. Bevor sie in die Modebranche fand, ging sie verschiedenen Tätigkeiten nach, als Zahnarzthelferin, im öffentlichen Dienst. In der Bekleidungsfirma Runken, berichtet sie, erhielt sie Einblicke hinter die Kulissen der Bekleidungsindustrie. Ein modischer Mensch sei sie indes schon immer gewesen. „Ich sehe sofort, wenn etwas unstimmig ist“. Damit halte sie auch gegenüber Kundinnen nicht hinterm Berg. „Ich sage dann: Zieh‘ das sofort wieder aus.“
In den 1970er-Jahren begann sie, sich mit Kleidung aus zweiter Hand beschäftigen. Erst in einem Laden um die Ecke, dann im eigenen Geschäft. „Das war damals noch ganz verpönt, manche haben sich geschämt, zu uns ins Geschäft zu kommen“, erinnert sich die Geschäftsfrau. Früher sei sie alle sechs Wochen nach Italien gefahren, um Neuware zu ordern. Conradi habe italienische Marken geführt, die es sonst nirgendwo in Bremen im Handel gab. Wenn sie ein paar Jahre jünger wäre, sagt Maria Conradi, würde sie gerne ähnliche Pionierarbeit mit osteuropäischer Mode leisten. Sie sei manchmal in Polen unterwegs. Was sich dort in der Mode tue, sei beeindruckend und werde hierzulande weithin unterschätzt.
Geschäft mit Seele
Die Ware bei Conradi ist ausgesucht, vor allem aber ist es die Atmosphäre, die den Unterschied macht. Das Geschäft scheint so etwas wie eine Seele zu haben. Das mag am Team liegen: Neben Maria Conradi und Margarethe Paskos sind das Natalja Karsten und Inge Westenberg. Das Geschäft trage zwar ihren Namen, „aber wir sind hier alle Chefs, wir tragen alle Verantwortung". Nicht nur die Kunden, auch die Beschäftigten halten Maria Conradi über Jahre und Jahrzehnte die Treue. Selbst im Ruhestand wie Heide Nölke – wenn es mal ganz schlimm kommt, springt die über 80-Jährige mit "als Feuerwehr" ein.
Conradi sei mehr als ein Geschäft, das ist Maria Conradi wichtig, darauf habe sie immer Wert gelegt. Es sei ein Ort, an dem man ins Gespräch kommen, „wo man sich auch offenbaren kann“. Viele Stammkundinnen seien über die Jahre zu guten Bekannten geworden. „Sie schütten ihr Herz bei uns aus“, wo sei das heute noch möglich? Maria Conradi und ihre Mitarbeiterinnen nehmen sich Zeit, sie hören zu, trösten und ermuntern, plaudern und lachen, miteinander, mit den Kunden. Mode wird zur Nebensache.
Schon einige Interessen seien vorstellig geworden, um den Laden zu übernehmen. Maria Conradi ist wählerisch. „Wer schon Dollarzeichen in den Augen hat, wenn er hereinkommt, kann gleich wieder gehen“, sagt sie. Niemand müsse ihr Konzept eins zu eins übernehmen, aber mit Herzblut bei der Sache soll der Nachfolger oder die Nachfolgerin sein und die Philosophie des Geschäfts verstehen. „Wissen Sie“, sagt sie, „ich bin sehr gläubig. Ich schaue jeden Abend zum Himmel und weiß, dass eines Tages der Richtige kommt.“