Warum er die ungeheuerlichen Taten begangen hat? Der Angeklagte weiß es selbst nicht. Um Frust abzubauen, vielleicht. Oder um die eigenen Schmerzen zu lindern. "Ich wollte, dass andere Stress haben", sagt der 31-Jährige. Er spricht leise, mit brüchiger Stimme, und ist kaum zu verstehen. Auch weil er sein Gesicht über drei Stunden lang hinter seinen gefalteten Händen verbirgt. "Wenn ich anderen Leid zugefügt habe, hat das mein eigenes Leid gemindert."
2016 hat der 31-Jährige etwa ein halbes Jahr lang vier homosexuelle Männer in Bremen terrorisiert. Außerdem beging er eine lange Liste von Betrügereien im Internet. Insgesamt werden ihm 68 Straftaten vorgeworfen, eineinhalb Stunden dauert es, bis die Staatsanwältin die drei Anklageschriften verlesen hat. Fast alle Taten räumt der Angeklagte anschließend ein.
Den Schwerpunkt des Verfahrens bildet der Straftatbestand "Nachstellung". Ein juristischer Begriff, der nur andeuten kann, worum es in diesem Fall geht. Sechs Monate lang hat der Angeklagte seinen Opfern nachgestellt, sie beschimpft und bedroht, sagt die Staatsanwaltschaft. Hat sie verächtlich gemacht, böswillig verleumdet und immer wieder öffentlich kompromittiert.
Ausgangspunkt hierfür war eine Online-Dating-App, die über ein sogenanntes Flirt-Radar verfügt. Es zeigt "flirtwillige Männer und Frauen" in der Umgebung an und soll laut Werbung "die Suche nach einem potenziellen Partner ungemein erleichtern". Zunächst habe er die App für die Suche nach Frauen genutzt, berichtet der Angeklagte. Dann aber entdeckt, dass es diese App auch für schwule Männer gibt. So sei er auf seine vier Opfer gestoßen. Keines davon habe er persönlich gekannt oder kennenlernen wollen.
Darum sei es ihm nicht gegangen. "Ich wollte, dass andere Leute Ärger haben. Dann ging es mir besser. Das hat mich entlastet." Und Ärger hatten seine Opfer fortan mehr als genug: In der Innenstadt tauchten zum Beispiel von zwei von ihnen Plakate mit ihren Bildern auf, auf denen sie als homosexuell geoutet wurden. Facebook-Freunde erhielten Nachrichten über angebliche Krebserkrankungen, im Namen der Mutter eines der Betroffenen wurde dessen Todesanzeige bei einer Tageszeitung bestellt.
Mehrfach gingen bei der Polizei online Anzeigen ein. Einmal ging es um eine angebliche Vergewaltigung, ein anderes Mal wurde einer der vier Männer beschuldigt, pädophil zu sein. In Bremen und anderenorts erhielten Menschen Todesdrohungen ("Möchtest du sterben? Heute ist dein Tag!") – im Display ihrer Telefone tauchten durch technische Manipulation des Angeklagten die Handynummern seiner vier Opfer auf.
Hinzu kamen Dutzende von An- und Verkäufe über Ebay-Kleinanzeigen. Auch hierfür benutzte der Täter die Namen seiner Opfer. Die dafür notwendigen Angaben wie Anschriften, E-Mail-Adressen, Handynummern oder auch Informationen über deren Familie und Freundeskreis fand der 31-Jährige in den sozialen Medien. Vor allem bei Facebook, wo er sich unter falschen Accounts in die Freundeslisten seiner vier Opfer einschlich.
In der Regel flog der Betrug schnell auf. Doch mit den Ermittlungen der Polizei, den besorgten Nachfragen aus dem persönlichen Umfeld oder auch den Regressansprüchen von Kunden oder Lieferanten mussten sich die vier Betroffenen monatelang herumschlagen. Diese litten erheblich unter dem psychischen Druck, konnten nicht mehr ruhig schlafen und teilweise nicht mehr zur Arbeit oder zur Schule gehen (einer der vier war noch Schüler), berichtet die Staatsanwältin. Vor allem, weil es auch persönliche Morddrohungen gab: "Ich werde dich und deine ganze Familie töten", kündigte der Angeklagte einem seiner Opfer an. "Für die vier jungen Männer muss das die Hölle gewesen sein", bringt es die Richterin auf den Punkt.
Warum sich seine Taten gegen vier Homosexuelle richteten, bleibt im Gerichtssaal unbeantwortet. Auch hierzu will der Angeklagte später aussagen, allerdings nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Eine Andeutung, woher die Wut des 31-Jährigen auf Schwule kommen könnte, macht seine Anwältin. Sie berichtet von einer 14-tägigen Untersuchungshaft ihres Mandanten, nicht lange vor den Nachstellungen. Und davon, dass ihr Mandant "mit der Situation im Gefängnis" nicht zurechtgekommen sei.
Aber es waren nicht nur die vier Männer, gegen die sich die Taten des Angeklagten richteten. Eine Bombendrohung gegen den Rewe-Markt in der Westerstraße im Juli 2016 geht ebenso auf seine Kappe wie eine E-Mail, mit der er – erfolglos – von Einkaufszentren, Kaufhäusern, Fastfood-Ketten und sogar der Polizei Geld zu erpressen versuchte. Auch hier drohte er mit einer Bombe. Die E-Mail versandte er unter einem arabischen Namen, das erpresste Geld sollte auf ein Konto gehen, das er unter dem Namen eines seiner homosexuellen Opfer angelegt hatte.
Fast schon alltäglich scheinen dagegen die Internetbetrügereien, die dem Angeklagten vorgeworfen werden. Insgesamt 58 Straftaten, bei denen es sich zumeist um Scheingeschäfte handelte. Der Angeklagte bestellte oder verkaufte unter falschen Namen Karten für Konzerte, Musicals oder Fußballspiele. Die Einnahmen dafür benötigte er zur Befriedigung seiner Spielsucht. Doch all dies spielt letztlich am Mittwoch vor Gericht keine Rolle mehr, die Verhandlung wird unterbrochen.
Angesichts der Angaben, die der Angeklagte zu seinen persönlichen Lebensverhältnissen und den Tatmotiven machte, geht die medizinische Sachverständige von einer "psychischen Störung relevanter Art" bei dem 31-Jährigen aus. Womit jetzt auch in Betracht kommt, dass der Mann am Ende des Verfahrens in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden könnte. Dafür müsste der Fall jedoch an das Landgericht verwiesen werden, was die Staatsanwaltschaft dann auch beantragt. Die Entscheidung hierüber gibt das Amtsgericht am Montag, 20. Januar, um 9.30 Uhr in Saal 651 bekannt.
+++ Dieser Text wurde aktualisiert um 19:28 Uhr +++