Auf der Liebesinsel hat man den besten Blick. Dort stehen die Menschen am Donnerstag zuhauf und schauen, was passiert: Fällt er, fällt er nicht? Kippt der Leuchtturm von der Mole und versinkt in den Fluten der Weser? Kann das wirklich sein, dass eines der Wahrzeichen von Bremerhaven plötzlich verschwindet, von einem Ort, an dem das 25 Meter hohe Bauwerk mehr als 100 Jahre gestanden hat?
Für Werner Hahn ist das unvorstellbar. Der 70-Jährige ist in der Seestadt aufgewachsen, er weiß zum Beispiel, woher die Liebesinsel, eine kleine Landzunge gegenüber vom Leuchtturm, ihren Spitznamen hat: "Bei Dunkelheit sind die Paare gekommen, haben geschmust und auf die Lichter der Stadt geschaut." Ein Plätzchen mit fantastischer Aussicht, auch an diesem Tag, obwohl der Himmel verhangen ist. In der Ferne liegt die Stromkaje mit den Containerschiffen, weiter vorne das Sail-City-Hochhaus, und dazwischen ragen die Masten der "Schulschiff Deutschland" auf.
Die Silhouette hat einen Knacks bekommen. Der Leuchtturm steht schief, und es könnte bei dem morschen Untergrund noch schlimmer werden. "Das sind Tausende Eichenpfähle, die damals in den Grund gerammt wurden", erzählt Hahn, der mit dem Fahrrad gekommen ist. Die meisten haben das Auto genommen, viele Auswärtige darunter, wie die Nummernschilder verraten. Touristen wahrscheinlich, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollen. "Das war ja klar", sagt Hahn, "Bremerhaven muss wieder einen draufsetzen." Was er meint: In Bremerhaven laufen gerade die Maritimen Tage, ein Fest mit vielen Besuchern – "denen wird jetzt auch noch ein schiefer Leuchtturm geboten."
Der Rentner nimmt's mit Humor, die Lotsen tun es auch. Sie lehnen über der Brüstung ihres Balkons im Lotsenhaus direkt an der Nordmole, an deren Kopf das Malheur passiert ist. "Um zwei Uhr in der Nacht stand der Turm noch gerade", berichtet einer der beiden Männer. Sein Kollege flachst: "Ich war in der Früh auf der Mole angeln, mein Blinker ist hängengeblieben, die Folgen sieht man jetzt." Etwas gallig fügt er hinzu, dass wohl gewartet worden sei, bis sich das Problem mit dem Denkmal von selbst erledigt.
Die Lotsen haben an diesem Tag viel Abwechslung, während sie darauf warten, bis an der Wesermündung ein Schiff eintrifft und dem Kapitän beim Navigieren geholfen werden muss. Mit dem Kaffeebecher in der Hand beobachten sie die Szenerie und werden gewahr, dass sich unter ihnen eine Wand von Fernsehkameras aufbaut: Pressekonferenz, die Häfensenatorin hat gerufen und mit ihr der Chef von Bremenports. Claudia Schilling spricht von einem "großen Schreck", der sie erfasst habe, als sie von dem Unglück erfuhr – "ein Wahrzeichen von Bremerhaven droht einzustürzen". Schnell seien ihre Gedanken aber woanders hingegangen, sagt die Senatorin: "Ist jemand verletzt? Muss der Schiffsverkehr eingestellt werden?" Erste Antwort: nein. Zweite Antwort: nur einen Tag lang.
Für Robert Howe, Geschäftsführer der Hafengesellschaft, ist es ein "trauriger Tag für diese maritime Lokalität". Beide, Schilling und Howe, kommen dann nicht umhin, unbequeme Fragen zu beantworten: Wie konnte das passieren? Warum wurde nicht früher etwas getan, um Mole und Leuchtturm zu sichern?
Dass mindestens der Steinwall vollkommen marode ist, erschließt sich sofort. Die Ziegelmauer ist brüchig und bemoost, bei Ebbe liegt das Fundament bloß, angefressene Eichenstämme. Ein Schild am Bauzaun warnt: "Betreten der Brüstung verboten. Einsturzgefahr!" Die Polizei hat am Donnerstag zusätzlich ein Flatterband gespannt, damit nur ja niemandem einfällt, dem schiefen Turm einen Besuch abzustatten. Auf dem Wasser sind Boote und Schiffe zu sehen, die mit sicherem Abstand Patrouille fahren.
Der Zustand der Mole lag also offen zutage. Seit sieben Jahren ist sie gesperrt. Trotzdem sollte es bis zum Neubau noch weitere zwei Jahre dauern, obwohl der Senat die Mittel bereits 2018 bewilligt hatte. Ja, geben Schilling und Howe zu, man hätte möglicherweise früher handeln müssen, um nicht die Mole, wohl aber den Turm zu retten, was jetzt nur noch unter schwierigsten Bedingungen möglich ist: Entweder noch an Land, bei Einsturzgefahr, oder unter Wasser, sollte das Bauwerk in den nächsten Tagen doch noch in die Weser stürzen. Dann müssten die einzelnen Teile herausgefischt werden.
Der Bremenports-Chef beklagt, was geschehen ist, er will sich das aber nicht in die Schuhe schieben lassen: "Der Molenturm gehört dem Bund, den konnten wir nicht so einfach anpacken." Jetzt doch, binnen weniger Stunden: "Wir haben die Freigabe bekommen." Am Wochenende solle der Rückbau beginnen, für den ungefähr zwei Wochen veranschlagt würden. Klar sei, betont auch Schilling, dass die neue Mole wieder einen Leuchtturm bekomme, nicht irgendeinen, sondern genau den, der jetzt in Schieflage geraten ist.