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Betreuung zu Hause Mutter auf Zeit: Bremer Hermann-Hildebrand-Haus erweitert Inobhutnahme

In Bremen wird seit einiger Zeit ein neues Konzept zur Betreuung traumatisierter Kinder erprobt. Das Hermann-Hildebrand-Haus bietet im Rahmen der Inobhutnahme nun auch Plätze mit Familienanschluss.
14.06.2024, 05:00 Uhr
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Mutter auf Zeit: Bremer Hermann-Hildebrand-Haus erweitert Inobhutnahme
Von Kristin Hermann

Zusammen mit anderen Kindern in der Gruppe hatte es der Säugling schwer. Weil er in seinen ersten Lebenswochen geschüttelt wurde, erlitt der kleine Junge ein Trauma, das zu körperlichen und geistigen Schäden geführt hat. Seitdem braucht er praktisch rund um die Uhr Betreuung, muss häufig zum Arzt und leidet unter Krampfanfällen. Bei seinen leiblichen Eltern kann er deshalb aktuell nicht mehr leben und wurde vom Jugendamt in Obhut genommen.

Seit Ende vergangenen Jahres wohnt der Junge vorübergehend bei Katja Busch. Die Kinderkrankenschwester wurde eigens für solche Fälle eingestellt. Das Hermann-Hildebrand-Haus schafft seit geraumer Zeit neue Stellen, um Kindern mit besonders hohem Bedarf die nötige Betreuung und Förderung zukommen zu lassen. Mit bis zu 40 Plätzen ist das Hermann-Hildebrand-Haus Bremens größte Noteinrichtung für Kinder im Alter von null bis 14 Jahren. Dort kümmert man sich vorübergehend um sie, bis feststeht, wo sie in Zukunft leben können.

Busch hat nach mehr als drei Jahrzehnten in der Kinderklinik nach einer neuen Aufgabe gesucht, bei der sie mehr Zeit zu Hause verbringen kann. „Nach Jahren im Schichtdienst kann ich meinen Tagesablauf nun so gestalten, wie es für das Kind und mich am besten ist“, sagt sie. Die 57-Jährige wohnt allein und hat für die Kinder, die sie in Zukunft betreuen wird, ein eigenes Zimmer in ihrer Wohnung eingerichtet. Das war Vorgabe, um die Stelle antreten zu können.

Während die Kinder bei ihr leben, sei sie Mutter auf Zeit. An diesem Tag sei sie mit dem Säugling beim Babysingen gewesen, ansonsten habe er aufgrund seines Traumas viele Termine beim Arzt und einen hohen medizinischen Bedarf. Busch profitiert dabei von ihrer Erfahrung als Kinderkrankenschwester. Auch der begleitete Umgang mit den leiblichen Eltern gehört zu ihrer Tätigkeit dazu. Dieser finde im Hermann-Hildebrand-Haus statt.

"Haben sehenden Auges Bindungsstörungen produziert"

Die Idee zu den Außenstellen ist laut Heimleiter Ulrich Kenkel schon vor ein paar Jahren entstanden. Hintergrund sei zunächst die angespannte Situation im Kleinkindbereich gewesen. Einige der Kinder seien viel länger als vorgesehen in der Noteinrichtung geblieben. Gerade kleinere Kinder suchen Kenkel zufolge aktiv nach Bindungen, hätten diese in den Gruppen mit vielen Wechseln jedoch nicht finden können. „Wir hatten also zunehmend das Problem, dass wir sehenden Auges Bindungsstörungen produziert haben, was schwer erträglich war“, sagt er.

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Nach der Corona-Pandemie habe man den Ansatz wieder aufgenommen und ein erweitertes Konzept erarbeitet, das Kinder bis zwölf Jahre einbezieht. „Denn auch unter ihnen gibt es Kinder, die in der Gruppe entweder versinken oder extrem auffällig sind“, sagt Kenkel. Mit dem neuen Konzept wolle man den Kindern bedarfsgerechter begegnen und das bestehende System entlasten.

Heimplatz mit Familienanschluss

Anders als in einem regulären Job sind Busch und ihre Kollegen 24 Stunden am Tag für die Kinder im Einsatz, Urlaub oder freie Tage seien nur mit Entlastungskräften möglich. „Ich empfinde das als Bereicherung, gleichzeitig ist diese intensive Bindung emotional herausfordernd.“ Die Mitarbeiterinnen müssen sich regelmäßig bewusst machen, dass sie die Kinder nach einer gewissen Zeit wieder verlassen. „Es ist ein Heimplatz mit Familienanschluss“, erklärt Claudia Große-Lochtmann, die beim Hermann-Hildebrand-Haus für die Außenstellen zuständig ist. „Man muss sich darauf einlassen, aber auch schützen. Das erfordert eine enge Absprache mit dem Team und Betreuung der Mitarbeiter.“

Eigentlich soll die Inobhutnahme nur eine Zwischenstation von einigen Wochen für die betroffenen Kinder sein, bevor geregelt ist, wie es für sie weitergehen kann. Der kleine Junge wohnt jedoch schon mehrere Monate bei Busch. Bei einer Kollegin sei es ähnlich. „Es fehlen Anschlussplätze für Kinder, die einen sehr großen Bedarf an Zuwendung haben“, sagt Große-Lochtmann.

Seit Mai ist Claudia Tiedemann Teil des Teams, ebenfalls Kinderkrankenschwester und eine ehemalige Kollegin von Busch. Anders als bei Busch werden die Kleinkinder zusammen mit Tiedemann, ihrem elfjährigen Sohn und ihrem Mann leben. „Die Entscheidung haben wir als Familie getroffen. Mein Sohn freut sich darauf, großer Bruder auf Zeit zu sein“, sagt die 44-Jährige.

Kindern Erinnerungen mitgeben

Doch auch er wird sich daran gewöhnen müssen, dass es für die Kinder nur eine Zwischenstation ist, nach der in der Regel kein Kontakt mehr zu den Inobhutnahme-Kräften vorgesehen ist. „Aber es wäre meine Vorstellung, dem Kind aus der Zeit, die es mit mir und meiner Familie verbracht hat, Erinnerungen mitzugeben, wie Fotos oder Notizen, damit es später weiß, wo es diesen Lebensabschnitt verbracht hat“, sagt Tiedemann.

Aktuell hat das Hermann-Hildebrand-Haus drei Außenstellen eingerichtet, in den kommenden Monaten sollen insgesamt acht Plätze entstehen, auch für ältere Kinder. Dafür suche man derzeit nach Fachkräften, die Erfahrungen im pädagogischen Bereich mitbringen. Angestellt sind die Kräfte direkt beim Hermann-Hildebrand-Haus und können deshalb auch die Fachdienste der Einrichtung nutzen, wie etwa die ärztlichen Sprechstunden.

„Der Unterschied zu herkömmlichen Übergangspflegestellen ist, dass diese in der Regel nebenbei noch berufstätig sind. Wir arbeiten mit Vollzeitstellen, damit man deutlich mehr Zeit für die Kinder hat“, sagt Ulrich Kenkel. Schon jetzt zeige sich der Erfolg des Konzepts. „Die Kinder hätten ohne diese intensive Zuwendung und Förderung nicht diese Entwicklungsschritte machen können“, sagt Große-Lochtmann. Nach Angaben der Einrichtung gebe es über Bremen hinaus bereits Interesse an dem Konzept.

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