Da liegt er und modert vor sich hin. Totes Holz, viel davon, ein riesiger, uralter Baum, den es umgehauen hat. Vor fünf Jahren war es plötzlich vorbei mit der Eiche. Kein Sturm, der sie gefällt hat, die Säge auch nicht. Es war das Alter, die Schwäche im Leib. Der Baum hatte keinen Halt mehr. Fraß und Fäulnis, die in ihm steckten, ein natürlicher Prozess, unaufhaltsam. Dann muss es von einer Sekunde zur anderen gewaltig gekracht haben, markerschütternd, danach: Stille im Wald. Seitdem ist der gefallene Koloss wie ein Denkmal der Natur. Er wird bestaunt und beklettert. Das Holz, wo es keine Rinde mehr hat, ist mit der Zeit so blank geworden wie nach einer Politur.
Die sogenannte Jagdhütten-Eiche im Neuenburger Urwald ist ein Beispiel, wie das Waldstück bewirtschaftet wird, nämlich gar nicht. Fällt ein Baum um, bleibt er liegen, fertig. Vorbildlich, finden Grüne und Linke. Bund und Länder sollten ein Zehntel ihrer Waldflächen nicht mehr nutzen und damit die „Urwälder der Zukunft“ entstehen lassen, fordert Grünen-Chef Robert Habeck. Linken-Vorsitzende Katja Kipping strebt einen „CO₂-Bonus“ für Waldbesitzer an, die widerstandsfähige, naturnahe Mischwälder anpflanzen statt nur Fichten und Kiefer, die bisherigen Brotbäume der deutschen Forstwirtschaft.

Kartengrafik zur Einordnung der Lage des Neuenburger Urwaldes.
Der Wald ist in aller Munde, seit Dürre, Schädlinge und Stürme den Bäumen in einem Maß zusetzen, wie es das selten gegeben hat. Die Umweltschützer vom BUND sprechen nach dem Waldsterben in den 1980er-Jahren, als die Böden übersäuert waren, schon vom „Waldsterben 2.0“. Betroffen sind Gebiete im gesamten Bundesgebiet, insgesamt 120 000 Hektar, schätzt die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald.
Zu dieser Zahl kommen die Bilder, dramatische Aufnahmen zum Beispiel aus dem Harz, wo durch die Trockenheit und den nimmermüden Borkenkäfer ein Fichtenforst nach dem anderen dem Tod geweiht ist. Weitgehend kahl und silbergrau, haben die Bäume keine Chance mehr – das Ergebnis jahrzehntelanger Monokultur mit Flachwurzlern wie der Fichte, die eigentlich nur für höhere Regionen typisch ist.
Im friesischen Neuenburg gibt es Buchen, Eichen, Hainbuchen, Birken und einige Sorten mehr. Vor allem aber werden diese Bäume nicht mehr angepackt. Der Urwald ist seit mehr als 150 Jahren ein Naturdenkmal. Teile davon sind danach zwar trotzdem in Beschlag genommen worden, vor allem nach dem Krieg, als das Brennholz knapp war. Die Fläche schnurrte daraufhin auf nur noch 23 Hektar zusammen. Dieser Kern blieb bis heute aber unberührt und wird, wo es geht, in der Zukunft wieder vergrößert.
Die umgefallene Eiche stand neben einer Jagdhütte, daher der Name. Sie war ein markanter Baum mit einem stark verdrehten, zwei Meter dicken Stamm, auf dem sich Moose, Flechten und Rippenfarn breitgemacht hatten. Zuletzt trieben die Blätter nur noch an ein paar Seitenästen aus, es war klar, dass das nicht mehr lange gutgehen konnte. Zusammengebrochen ist die Eiche während der Nachtstunden, als kein Mensch im Wald war. Es hätte auch anders kommen können – in den Urwald, wo der Verfall Programm ist, geht man auf eigene Gefahr.
„Nach mehr als 800 Jahren darf man abtreten“, sagt Rainer Städing von den Niedersächsischen Landesforsten. So alt ist die Eiche geworden, nicht als einzige, denn da stehen noch mehr. Echte Kaliber, die den unbedrängten Wuchs Vieh und Mensch zu verdanken haben. Es sind Relikte aus der Zeit des Hutewaldes, als die Fläche beweidet wurde. Die Eicheln dienten der Mast, ein gefundenes Fressen für Schweine und Gänse. „Unter Eichen wachsen die besten Schinken“, zitiert Städing einen alten Spruch. Als Brenn- und Bauholz waren die Bäume erst in zweiter Linie interessant.
Der Förster führt durch den Urwald, erklärt die Vegetation und kann sich auch nach Jahrzehnten im Dienst immer noch begeistern: „Diese Formensprache im Wald – man muss schon sehr nüchtern veranlagt sein, um davon nicht in den Bann gezogen zu werden.“ Baumstümpfe, die Assoziationen wecken. Marienstatue, Yoga-Figur, Ampelmännchen? Im bloßgelegten Wurzelwerk der umgestürzten Bäume springen einen Gesichter an, Fratzen, wenn man Fantasie hat. Den Hainbuchen, die früher regelmäßig gekappt wurden, wachsen Äste aus dem Kopf, sieht aus, als wären es Kandelaber. Verwunschen ist es im Urwald, morbide und auch ein bisschen unheimlich, wenn es dunkel wird oder Nebel aufzieht.
Die Bundesregierung hat das Ziel formuliert, fünf Prozent des gesamten Waldes in Deutschland sich selbst zu überlassen. Nach Angaben vom April sind es derzeit 2,8 Prozent. Was dabei entsteht, ist genau genommen kein Urwald, denn die Flächen sind wie in Neuenburg jahrhundertelang genutzt worden. Man müsste deshalb eher von Naturwald sprechen. Wortklauberei, die an dem Ergebnis nichts ändert, dass die Bäume in den ausgesuchten Gebieten kein Wirtschaftsgut mehr sind. In Niedersachsen wurden die ersten Naturwälder bereits in den 1970er-Jahren ausgewiesen. Darin eingeschlossen waren Baumbestände, die schon lange als Urwälder gelten.
Im Nordwesten sind das neben dem Neuenburger Urwald der Hasbruch zwischen Bremen und Oldenburg, der Urwald Baumweg an der B 213 zwischen Ahlhorn und Cloppenburg und der Urwald Herrenholz bei Goldenstedt in der Wildeshauser Geest. Bis zum Jahr 2015 kamen in den Landesforsten 27 800 Hektar zusammen, die aus der Nutzung genommen worden sind. Das entspricht einem Anteil von 8,2 Prozent und liegt deutlich über der Leitzahl der Bundesregierung. Niedersachsen geht jetzt noch einen Schritt weiter. Landesweit kommen nach und nach 5000 Hektar hinzu, sodass der Anteil von naturbelassenem Wald zehn Prozent betragen wird.
Der Wald ist elementar im Kampf gegen den Klimawandel
Rainer Städing, der als Förster 20 Jahre lang in Braunschweig sein eigenes Revier hatte und nun für die Landesforsten im Nordwesten die Pressearbeit macht, zeigt auf einer Karte zwei Gebiete, die im 660 Hektar großen Neuenburger Holz, zu dem der Urwald gehört, zusätzlich als Naturwälder ausgewiesen werden. „Dort greifen wir allerdings immer mal wieder ein“, erklärt der 63-Jährige. Der Grund: Eichen, so stark sie auch sind, haben gegen die Buchen auf Dauer keine Chance. Sie werden verdrängt. Anders als im Neuenburger Urwald, wo nur noch wenige Eichen stehen, soll dieser Prozess durch die gezielte Entnahme von Buchen gelenkt werden.
Der Wald ist ein CO₂-Speicher und wichtig im Kampf gegen den Klimawandel. Der Wald ist ein Ort von Mythen und Märchen. Die Menschen lieben den Wald, er weckt starke Emotionen. Wenn nun massenhaft Fichten und Kiefern sterben, berührt das deshalb einen Punkt, der weit über den Verlust von Natur und die Nachteile für das Klima hinausgeht. Politiker wie Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) passen daran wenn nicht ihr Handeln, so doch zumindest ihre Rhetorik an.
Klöckner will im September einen nationalen Waldgipfel einberufen. „Nur mit vereinten Kräften stemmen wir die Mammutaufgabe, die vor uns liegt, um unseren Wald zu retten. Nicht nur für uns, sondern für die nachfolgenden Generationen“, sagte sie der „Rheinischen Post“. Es gehe nicht nur um Investitionen in Millionenhöhe für Aufforstungen, sondern auch um die langfristige Anpassung der Wälder an den Klimawandel, so die Ministerin.
Doch es gibt auch andere Stimmen. „Wir betrachten das Absterben von Bäumen, auch wenn es großflächig ist, nicht als Katastrophe, sondern als Teil der natürlichen Waldentwicklung“, betont Andreas Pusch, Leiter des Nationalparks Harz. Das Werden und Vergehen schaffe Lebensraum für eine Vielzahl von Pflanzen und Tieren, die es in der überwiegend intensiv genutzten Kulturlandschaft andernorts oft schwer hätten.
Die Jagdhütten-Eiche im Neuenburger Urwald ist ein Beispiel dafür. Sie wird von unzähligen Käfern besiedelt. Wissenschaftler haben in dem Gebiet 711 Arten gezählt, darunter viele seltene und gefährdete Exemplare. Förster Städing kann sich regelmäßig von dieser Population überzeugen, er sagt es so: „Totholz ist Leben.“