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New Work Wenn der Chef auf seinen Parkplatz verzichtet

Lorenz Kiene führt die Lühmann-Gruppe, zu der unter anderem 170 Classic-Tankstellen gehören. Er hat uns erzählt, wie New Work in seinem Unternehmen funktioniert.
23.01.2023, 05:00 Uhr
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Wenn der Chef auf seinen Parkplatz verzichtet
Von Marc Hagedorn

Julia Aschsche ist bei ihrem Pferd im Stall, als sie den Anruf bekommt. Eine Dienstnummer. Es ist Sonnabend, eigentlich hat sie frei. Trotzdem geht sie ans Handy. Tatsächlich hat die Angelegenheit eine gewisse Dringlichkeit. Aschsche kümmert sich für ihren Arbeitgeber um den Geschäftsbereich Carsharing, und jetzt teilt man ihr mit, dass eines der Fahrzeuge nicht absprachegemäß von einem Kunden übergeben worden sei, sondern unverschlossen am Hauptbahnhof in Oldenburg stehe. Und, ach ja, ein Blick ins Wageninnere lasse vermuten, dass in dem Auto Drogen konsumiert worden seien. Was tun am freien Abend?

Sie habe nicht lange gezögert, erzählt Aschsche dem WESER-KURIER. „Das ist ein Problem, das unser Team jetzt lösen muss“, habe sie damals gedacht. Zum kleinen Team gehört ein Kollege in Vollzeit und eine Kollegin in Teilzeit. Aschsche ruft beide an, Wochenende hin, Wochenende her. Der Plan ist schnell gefasst: Der Kollege kümmert sich darum, dass der Wagen gesperrt wird. Die Kollegin besorgt einen Ersatzschlüssel, den Aschsche abholt, nachdem sie ihr Pferd versorgt hat. Dann holt Aschsche das Auto aus Oldenburg und stellt es im Fuhrpark ab. Problem gelöst. Die geleisteten Arbeitsstunden holen sich Aschsche und ihre Kollegen bei nächster Gelegenheit zurück.

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Ihr Chef hat damals erst ein paar Tage später von dem Vorfall erfahren, als die Geschichte von dem „Drogenauto“ im Betrieb die Runde machte. Aschsches Chef heißt Lorenz Kiene. Der promovierte Jurist ist Geschäftsführer der Christian Lühmann GmbH, die unter dem Namen Classic bundesweit unter anderem 170 Tankstellen besitzt und Schmierstoffe vertreibt. Rund 500 Mitarbeiter hat das Unternehmen aus dem niedersächsischen Hoya auf halber Strecke zwischen Bremen und Hannover.

Es sind zufriedene Mitarbeiter, wie Kiene glaubt. Woran er das festmacht? Zum Beispiel daran, dass das kleine Carsharing-Team wie selbstverständlich an einem Sonnabend einspringt, wenn die Situation es erfordert. Wenn Kiene erklären soll, warum die Mitarbeiter dies tun, erzählt er eine Geschichte über den Sinn der Arbeit. „Bild eins“, sagt er, „jemand klopft in einem Steinbruch Steine. Bild zwei: Jemand klopft in einem Steinbruch Steine, und man sagt ihm, dass daraus später Fensterglas wird. Bild drei: Jemand klopft in einem Steinbruch Steine, und man sagt ihm, dass daraus später Fensterglas wird, das in den Kölner Dom eingebaut wird.“ Kiene lässt die Worte sacken, dann fragt er sein Gegenüber: „Was glauben Sie: Wer von den dreien sieht am meisten Sinn in seiner Arbeit?“

Eine sinnstiftende Arbeit tun – das ist ein Kern von New Work. Unter diesem Begriff wird seit ein paar Jahren und vor allem seitdem die Corona-Pandemie den Wandel in der Arbeitswelt beschleunigt hat, alles gepackt: New Work ist Homeoffice. New Work ist Vier-Tage-Woche oder Sechs-Stunden-Tag. New Work ist der Obstkorb und das Freigetränk im Büro. New Work ist Meditation in der Mittagspause und Sport auf Betriebskosten. New Work ist, wenn der Chef seine Leute machen lässt, Hierarchien abflacht oder gleich ganz abschafft. New Work ist, wenn die Mannschaft vom Unternehmenserfolg profitiert.

New Work ist eine innere Einstellung, eine bestimmte Haltung zur Arbeit.
Geschäftsführer Lorenz Kiene

Massagen am Arbeitsplatz für nur fünf Euro, ein Obst- und Getränkeabo, Firmenfitness und eine Gewinnbeteiligung gibt es bei der Lühmann-Gruppe auch. Für Kiene ist New Work aber noch mehr, „das ist eine innere Einstellung, eine bestimmte Haltung zur Arbeit“, sagt er. Freude an und Sinn in der Aufgabe.

Julia Aschsche, das erzählt sie im Gespräch mit dem WESER-KURIER ganz offen, hat diesen Sinn vor einiger Zeit nicht mehr gesehen. Die Arbeit im Carsharing-Team, damals neu gegründet, steckte in einer Sackgasse. Drei Leute auf 2,5 Stellen, mal im Außendienst, mal im Büro, mal im Homeoffice, dazu Ideen zuhauf, zu manchen Zeiten 50 Projekte parallel. Als „sehr hektisch und kräftezehrend“, als „frustrierend und chaotisch, vor allem wenn jemand krank wurde“,  habe sie ihre Arbeit zu der Zeit empfunden, sagt Aschsche, die ihr Duales Studium bei der Lühmann-Gruppe abgeschlossen hat.

Geleitet wurde die Carsharing-Abteilung damals vom Chef persönlich, also von Lorenz Kiene selbst. „Da sind wir an Grenzen gestoßen“, sagt Kiene, „da bin ich an Grenzen gestoßen. Ich musste einsehen, dass ich mit meinen gelernten und bis dahin erfolgserprobten Methoden nicht weiterkomme.“

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Also alles auf neu und zwar im gesamten Unternehmen. „Wir Chefs müssen realisieren, dass wir eine neue Arbeitswelt haben“, sagt Kiene, „ob uns das gefällt oder nicht – es ist so.“ Dafür muss er in der Unternehmensgruppe gewachsene Strukturen und althergebrachtes Denken aufbrechen. Eine Herkules-Aufgabe, ein Kampf auch gegen Widerstände – in der Belegschaft wie unter den Führungskollegen. „Denn wir waren auf die eingeübte Art und Weise ja erfolgreich“, wie Kiene sagt.

Schließlich gelingt es ihm, die Geschäftsführerkonferenz, bestehend aus vier Geschäftsführern und sechs Prokuristen, davon zu überzeugen, New Work zu etablieren. Im November 2019 fällt dieser Entschluss – und der Erfolg bleibt aus. „Weil wir es von oben nach unten implementieren wollten“, sagt Kiene.

Heute weiß er, dass es anders laufen muss. Dass er Hierarchien abbauen muss, dass „wir Chefs loslassen und den Mitarbeitern mehr Freiheiten, Verantwortung und Gestaltungsspielraum geben müssen“. Dafür holt sich die Lühmann-Gruppe im Oktober 2020 Hilfe von außen: Das Bremer Unternehmen „Kurswechsel“ kommt ins Haus. Es gehört zur Team-Neusta-Gruppe des ehemaligen Bürgermeisterkandidaten Carsten Meyer-Heder. Die Carsharing-Abteilung, in der Julia Aschsche arbeitet, wird zum „Leuchtturm“ erklärt. Der Bereich agiert ab sofort selbstgeführt und in Eigenverantwortung.

Es ist ein ganz toller Teamgeist entstanden.
Julia Aschsche

Für das kleine Drei-Personen-Team eine Offenbarung. „Das Arbeiten hat noch nie so viel Spaß gemacht“, sagt Aschsche. Vertrieb, Marketing, Administration – jeder Kollege hat zwar noch seine Vorlieben, aber eine feste Rollenverteilung gibt es nicht mehr, jeder weiß über alles Bescheid. Das sogenannte Miro-Board, auf das alle drei Zugriff haben, wird zum Wunderwerkzeug. Jeden Freitag werden die Aufgaben für die nächste Woche formuliert und im Miro-Board hinterlegt. Wer montags als Erstes ins Büro kommt, schnappt sich eine Aufgabe und macht sich ans Werk. In Bearbeitung, geblockt, erledigt – in diese Kategorien werden die Aufträge eingeteilt. Wer Pause macht, einen Außentermin hat oder Hilfe bei einem Thema benötigt, hinterlegt dies ebenfalls im Miro-Board. "Es ist ein ganz toller Teamgeist entstanden", sagt Aschsche.

Einmal wöchentlich erstattet die Mannschaft Geschäftsführer Kiene Bericht. Dann fragt der Chef nach, gibt Denkanstöße, lässt sich erklären, warum etwas so gelaufen ist, wie es gelaufen ist. Danach muss der Boss das Meeting verlassen, und die Gruppe legt intern die Aufgaben für die nächste Woche fest. Wie sich das anfühlt als Chef? „Sehr gut“, sagt Kiene, „denn wenn vier zusammen etwas denken, kommt Besseres dabei heraus, als wenn einer alles alleine macht.“ Seine Aufgabe als Chef sieht Kiene darin, den Mitarbeitern den Raum zu verschaffen, der sie befähigt, „selbst in Führung zu gehen. Die Abteilung ist ja nicht führungslos.“

Andere Abteilungen folgen schon bald dem „Leuchtturm“ Carsharing. Im November 2020 führt der Schmierstoff-Bereich agile Arbeitsweisen ein. Im Februar 2021 strukturiert sich die Marketing-Abteilung um. Im Januar 2022 stellen die Betriebstankstellen ihre Arbeitsweise um. Im März 2022 werden weitere Hierarchien abgebaut: Die Geschäftsführerkonferenz wird abgeschafft, die Geschäftsführerparkplätze sind offiziell Geschichte.

Besonders Letzteres findet viel Beachtung. „Im Grunde werden ja nur ein paar Schrauben entfernt und Schilder abmontiert, aber Sie glauben gar nicht, was für eine Wirkung das hat“, sagt Kiene. In den ersten Wochen traut sich noch niemand, auf den freien Plätzen der Chefs zu parken, inzwischen muss sich Kiene, wenn er ins Büro fährt, wie jeder andere auch einen freien Parkplatz auf dem Gelände suchen.

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Die jüngste Neuerung ist die Gründung eines selbstgeführten Personalteams. In diese Abteilung ist Julia Aschsche inzwischen gewechselt. Das Personalteam ermöglicht unter anderem hausinterne Praktika in anderen Abteilungen, erleichtert den innerbetrieblichen Jobwechsel, organisiert Weiterbildungen.

Hoya liegt nahe am geografischen Mittelpunkt von Niedersachsen, oder, wie Kiene es ausdrückt, „in der Pampa“. Nahezu alle Branchen in Deutschland suchen Fachkräfte, auch die Lühmann-Gruppe. Aber hier draußen wähnt man sich gut aufgestellt. 15 Auszubildende und Studenten lernen hier. Ziel sei es, Kollegen nur noch dann ersetzen zu müssen, wenn sie in Rente gingen, sagt Aschsche. Drei Mitarbeiter, die vor einiger Zeit das Unternehmen verlassen haben, sind inzwischen zurückgekehrt. „Scheinbar machen wir doch einiges richtig“, sagt Kiene.

Zur Sache

Grenzen von New Work

Homeoffice, flexible Arbeitszeiten, mehr Verantwortung – New Work, das hört sich gut an, aber es gibt auch Risiken und Kritik. Der Deutsche Gewerkschaftsbund zum Beispiel hat 2021 eine Umfrage unter Erwerbstätigen durchgeführt, die ihre Arbeit ins Homeoffice verlegt haben. Ergebnis: Jeder dritte Befragte teilte mit, im Zeitraum zwischen 18 und 23 Uhr oft bis sehr häufig noch zu arbeiten. Vor Corona hatten dies weniger als zehn Prozent angegeben.

Laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin tendieren Erwerbstätige im Homeoffice außerdem zu sogenanntem Präsentismus. Wie die Techniker Krankenkasse herausgefunden hat, tendiert die Hälfte der Beschäftigten dazu, auch krank zu arbeiten, was in bestimmten Fällen ein höheres Fehler- und Unfallrisiko bedeuten kann.

Carsten Schermuly, Wirtschaftspsychologe der SRH Hochschule Berlin, sagt, dass es nicht ausreicht, nur neue Strukturen einzuführen und Hierarchien abzuflachen. Für einen echten Kulturwandel müssten Angestellte ihre Tätigkeit tatsächlich als bedeutsam und sich selbst als selbstbestimmt, kompetent und einflussreich erleben. 

Umstritten ist, ob in vielen Old-Work-Bereichen wie Kitas, Pflegeheimen oder bei der Müllabfuhr New Work möglich ist. Auch wenn die körperliche Präsenz am Arbeitsplatz in manchen Branchen eine Notwendigkeit ist und Homeoffice damit ausschließt, sehen Befürworter auch bei Old Work Ansatzpunkte, um Elemente von New Work umzusetzen, etwa bei der Aufgabenverteilung, der Dienstplangestaltung oder der Zusammenstellung von Teams.

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