Eine Umfrage der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Niedersachsen hat für Schlagzeilen gesorgt. Die Arbeitsgemeinschaft, in der große Pflegeanbieter wie Diakonie, Caritas und der Paritätische zusammengeschlossen sind, hatte zwischen Februar und April eine Abfrage bei 400 ambulanten Pflegediensten ihrer Mitgliedsverbände durchgeführt. Rund 100 antworteten. Das Ergebnis: In rund 1700 Fällen seien im Befragungszeitraum Versorgungsanfragen von Pflegebedürftigen abgelehnt, in 63 Fällen bestehende Pflegeverträge gekündigt worden. Wie sieht es bei Pflegediensten in der Region aus? Unsere Redaktion hat sich umgehört.
Wiebke Botterbrodt leitet den Pflegedienst Lilienthal in Schwanewede. "Wir mussten noch keine bestehenden Verträge kündigen. Es kam aber schon vor, dass wir Anfragen von neuen Kunden ablehnen mussten." Zurzeit gebe es keinen Aufnahmestopp. "Wir können am Standort Schwanewede auch nicht über Personalmangel klagen", so Botterbrodt. Eine Vollzeitkraft dürfe aber nicht mehrere Wochen ausfallen. "In dem Fall könnten wir keine neuen Patienten mehr aufnehmen."
Wie den Pflegealltag meistern, wenn es doch mal eng wird? "Das geht nur durch Überstunden und Gefälligkeiten der Mitarbeiter." Gefälligkeiten – damit meint die Pflegedienstleiterin, dass Mitarbeiter freie Tage opfern und einspringen. Wenn es nicht anders machbar sei, werde auch versucht, Zeit bei der Pflege zu sparen. "Da rettet man sich dann zum Beispiel damit, dass der Patient an einem Tag mal nicht geduscht wird."
Aber es gibt nicht nur Notstand
Der Diakonie-Sozialstation Schwanewede macht der Fachkräftemangel in der Pflege nach eigenen Angaben keine Sorgen. "Bei uns gibt es keinen Notstand, wir haben sogar neue Mitarbeiter gewinnen können", sagt Yvonne Kietzmann von der Pflegeleitung. Die Sozialstation habe bislang weder neue Versorgungsanfragen ablehnen noch bestehende Verträge kündigen müssen. "Allerdings können wir unsere Pflege nicht immer zu den Wunschterminen der Pflegebedürftigen anbieten. Die meisten wollen zwischen 6.30 und neun Uhr versorgt werden. Das können wir nicht in jedem Fall leisten." Da komme der Pfleger eben auch mal erst ab halb elf.
Bei der Diakonie-Sozialstation in Ritterhude ist der Personalmangel dagegen durchaus ein Problem. "Wir suchen Mitarbeiter, aber wir finden nur ganz schwer examinierte Kräfte. Vieles läuft über Mundpropaganda", sagt Pflegedienstleiterin Foolke Hagemann. "Bestehende Verträge mussten wir Gott sei Dank noch nicht kündigen."
Zeitweise Aufnahmestopp
Die Personalnot ist nach ihren Worten aber spürbar. "Im Frühjahr gab es eine schlimme Phase, wo wir neue Patienten nicht aufnehmen konnten." Wegen der Grippewelle waren Mitarbeiter erkrankt. "Im Schnitt mussten wir zwei Anfragen pro Woche ablehnen, in einigen Wochen sogar drei." Im Moment habe sich die Situation entspannt. Hagemann sieht aber schon die nächsten dunklen Wolken aufziehen. "Zur Urlaubszeit im Sommer wird sich die Lage wieder zuspitzen."
Personelle Engpässe lassen sich nach ihren Worten nur durch Überstunden der Mitarbeiter auffangen. "Es kommt auch vor, dass wir in einer Tour mal Patienten dazwischenschieben müssen. Die Mitarbeiter hetzen dann durch die Tour, die Patienten fühlen sich schlecht behandelt und bekommen auch nicht immer die Versorgung, die sie brauchen", beschreibt Hagemann das Problem. Da könne es dann schon mal vorkommen, dass ein Pflegebedürftiger statt drei Mal nur ein Mal in der Woche geduscht werde. "Das ist nicht schön und eigentlich nicht gewollt, aber manchmal geht es einfach nicht anders."
Fachkräfte unter Zeitdruck
Die Kranken- und Pflegekassen machten es den Pflegediensten laut Hagemann zusätzlich schwer. "Bestimmte Tätigkeiten wie Kompressionsstrümpfe an- und ausziehen, die bislang Pflegehelfer ausführen durften, müssen jetzt examinierte Kräfte mit übernehmen." Die Helfer fühlten sich disqualifiziert und seien frustriert, die Fachkräfte stünden unter zusätzlichem Arbeits- und Zeitdruck. In einem Fall habe das dazu geführt, dass eine sterbenskranke Patientin nicht sofort aufgenommen werden konnte. "Unsere qualifizierten Kräfte standen für die Versorgung der Frau zunächst nicht zur Verfügung, weil sie ausgelastet waren mit Arbeiten, die eigentlich Pflegehelfer hätten ausführen können."
Den Druck in der Pflege spürt auch die Diakonie-Sozialstation Stedingen in Berne. "Es wird immer schwieriger", sagt Pflegedienstleiterin Gudrun Erichsen. Verträge habe die Sozialstation noch nicht kündigen müssen. "Aber bei Neuaufnahmen schauen wir genau hin, ob wir die zusätzlichen Versorgungstermine auch wahrnehmen können. Wir mussten schon Patienten ablehnen, weil wir die Behandlungspflege zeitlich nicht hätten leisten können." Eine Stelle in der Station sei derzeit nicht besetzt. "Wir haben händeringend eine Fachkraft gesucht, ohne Erfolg." Woran liegt es? "Pflege ist ein schwerer Beruf, außerdem gibt es häufig nur Teilzeitverträge", nennt Erichsen mögliche Gründe.
Viele müssen einen Nebenjob annehmen
"In der Vergangenheit ist nicht genug ausgebildet worden", sieht Foolke Hagemann ein Versäumnis. Die Sozialstation Ritterhude bilde gerade eine Pflegehelferin zur Fachkraft weiter. "Wir wollen unsere Mitarbeiter behalten. Deshalb müssen wir ihnen die Möglichkeit geben, sich zu qualifizieren." Hilfe von der Politik fordern die Wohlfahrtsverbände. Es gehe darum, dauerhaft Fach- und Hilfskräfte zu gewinnen, Pflege besser zu bezahlen und zu würdigen, auch wenn es um vermeintlich "unproduktive Zeit" für Gespräche mit Patienten gehe. Der Ruf nach höheren Löhnen kommt auch aus den Pflegediensten. "Ein Single kann von einer Vollzeitstelle in der Pflege nicht leben. Viele müssen für ihren Lebensunterhalt noch einen Nebenjob annehmen. Da läuft etwas verkehrt", sagt Wiebke Botterbrodt in Schwanewede.
Der Fachkräftemangel in der Pflege war kürzlich auch Thema einer Regionaltagung von Vertretern der Pflegebranche mit Niedersachsens Gesundheitsministerin Carola Reimann in Ritterhude. Neben mehr Personal und höheren Löhnen wurden dort flexiblere Arbeitszeitmodelle als Möglichkeit genannt, den Pflegeberuf attraktiver zu machen. "Wir müssen unseren Mitarbeitern entgegenkommen", ist auch Foolke Hagemann überzeugt. Die Diakonie-Sozialstation in Ritterhude setzt Mitarbeiterinnen mit kleinen Kindern neuerdings in speziellen "Müttertouren" ein. Die Touren sind laut Hagemann zeitlich so gestaltet, dass die Frauen Familie und Beruf vereinbaren könnten.